Börsen-Boom in Deutschland

Reise nach Infineon

Börsen-Boom in Deutschland: Kommt nun das »Jahr der Aktie« oder der große Crash? Die Ökonomen streiten sich um die Antwort.

Wer wieder Kind sein kann, liegt voll im Trend. Nicht nur, dass ein gigantischer Spielplatz, nämlich die Börse, alle Herzen schneller schlagen lässt. Man darf sich auch wieder balgen. Besonders knapp wurden letzte Woche die Stühle bei der »Reise nach Infineon«. Zwar ließ sich bei der Neu-Emission der Siemens-Tochter Infineon an einem einzigen Tag der Geldeinsatz verdoppeln. Doch nur jeder fünfte Bewerber bekam überhaupt eine Aktie.

Selbst die Experten nehmen an der Reise teil - auch wenn es für viele eine Fahrt ins Blaue ist. Denn bei der Beurteilung der Aktien-Märkte, ihrem ureigensten Gebiet, sind sich die Ökonomen uneins und sprechen sich gegenseitig jede Realitätsnähe ab. So wird sowohl das kommende »Jahr der Aktie« angepriesen als auch vor dem totalen Zusammenbruch der Kapital-Märkte gewarnt. Ausgerechnet die Ökonomen scheinen ihre eigene Welt nicht mehr zu verstehen.

Doch wer versteht schon Infineon? »Nie haben so viele Leute ein Stück von einem Kuchen abhaben wollen, der dem Bäcker, also Siemens, wenigstens teilweise nicht mehr schmeckt«, wundert man sich in diesem Fall selbst beim Anlegerservice Motley Fool. Aber das Staunen hält sich dort schon aus Prinzip in Grenzen. Die Halbleiter-Sparte hat bei Siemens in der Vergangenheit immer wieder für Kummer gesorgt. Dieses Geschäft läuft in einer zyklischen Branche, regelmäßige Tiefphasen sind also programmiert. Noch 1998 stand Infineon tief in den roten Zahlen. Jetzt tendieren Technologiewerte wieder wie verrückt nach oben. Es gilt: Wenn die Verhältnisse irre werden, werden die Irren zu Profis.

Aus dieser Devise haben zumindest die Anlagestrategen von Motley Fool Programm gemacht. Folgerichtig treten sie gleich mit der Narrenkappe als Markenzeichen auf und schlagen alle herkömmlichen Finanzierungsweisheiten in den Wind. Insbesondere neue Firmen, die traditionelle Regeln brechen, lassen sich in ihrem Verständnis nicht mit Zahlen messen.

Motley Fool sind typisch für das Lager der betriebswirtschaftlich orientierten Analysten. Im Blickfeld liegt das einzelne Unternehmen und seine Zukunftschancen. Wer den richtigen Einblick hat, erkennt als erstes die aussichtsreichsten Firmen und profitiert von deren Aufstieg. Bei solchen Aussichten vergeht der Finanz-Szene vor Aufregung sogar der Appetit. »Lunch is for losers« lautet das demonstrative Motto - wer sich noch die Zeit zu einem Mittagessen nimmt, verpasst die neuesten Informationen und damit die vielversprechenden Geheimtipps.

Doch solche Erkenntnisse gelten bei den Lehrbuch-Ökonomen nur als Voodoo-Zauber. Schließlich herrscht Kapitalmarkt-Effizienz: Alle Informationen, die man in jedem Moment über eine Aktie erlangen kann, drücken sich bereits in ih-rem Preis aus. Der Markt in seiner Gesamtheit weiß mehr als jeder Einzelne. Und was zukünftig folgt, ist kaum kalkulierbar.

Die Erfolgsstorys einiger Analysten sind für diese Ökonomen daher nichts als eine riesige Show. Denn rechnerisch gesehen zählt die Regel, nicht die Ausnahme. Und wer sich als naiver Anleger am Aktien-Index orientiert, an der offiziellen Auswahl der wichtigsten Aktien einer Börse, hat im Durchschnitt bereits die Anlageprofis geschlagen. Dass einzelne Finanzexperten schon mal erfolgreicher sein können, ist bei der großen Anzahl von Analysten nicht verwunderlich.

Doch aus volkswirtschaftlicher Sicht existieren noch weit größere Ungereimtheiten als die Kaffeesatz-Leserei der Analysten. Bedenklich ist die Gesamtentwicklung. Vor einem bösen Erwachen warnt Paul Krugman, der Medienstar unter den Wirtschaftswissenschaftlern. Für die USA sieht der US- Ökonom sogar einen Crash voraus: »Ich bin mir aber zu 85 Prozent sicher, dass wir dann eine Schieflage wie in Japan verhindern können. Trotzdem: Die restlichen 15 Prozent machen mir wirklich Angst.«

Krugmans Warnungen sind nicht ohne Bedeutung. Als alle Welt noch von den asiatischen Tigerstaaten schwärmte, zückte er den Taschenrechner und wies nach, dass hier über einen Mythos fantasiert wird: Die volkswirtschaftlichen Daten stimmten nicht. Kurz darauf brach die Asien-Krise aus. Zur Begründung seiner pessimistischen Prognosen verweist der US-Ökonom immer wieder auf »die Tyrannei der Zahlen»: Statistische Realitäten und ökonomische Zusammenhänge lassen sich durch keine Phantasie außer Kraft setzen. Das klingt unspektakulär, hat sich aber in der Vergangenheit oft als treffsicherer erwiesen als viele Einzelfallprognosen.

Der zwingendste Zusammenhang besteht dabei zwischen Rendite und Risiko. Je höher der eigene Geldeinsatz potenziell entlohnt wird, umso höher ist automatisch das Risiko des Geldverlusts, ob das der Anleger nun weiß oder nicht. »There is no such thing like a money machine«, so ein volkswirtschaftliches Glaubensbekenntnis. Gäbe es eine solche Geldmaschine, würde sie sofort von allen in Anspruch genommen werden und damit als Quelle versiegen.

Im Zweifelsfall hilft auch ein Blick auf die Statistik. Aktien-Kurse steigen nicht im luftleeren Raum, sondern sind eindeutig an einen Basiswert gebunden. Dieser orientiert sich an der Dividende, die jährliche Auszahlung pro Aktie. Kurzfristig kann die konkrete Dividende zwar an Bedeutung verlieren; so arbeiten viele der derzeit hoch gehandelten Unternehmen noch mit großen Verlusten. Doch langfristig rechnen die Anleger mit steigenden Dividenden und investieren daher trotz der roten Zahlen. Die erhoffte Gewinnexplosion gibt es aber, wenn überhaupt, nur bei Senkrechtstartern in neuen Branchen - im Moment müssten das dann so ziemlich alle neuen Aktien sein. Da aber nicht alle neuen Unternehmen erfolgreich sein können, werden sich viele Prognosen als falsch herausstellen. Die jeweiligen Aktien-Kurse brechen dann zwangsläufig zusammen.

Wer aber widerlegt jetzt wen - die Experten der allgemeinen Wahrheiten die Experten des Besonderen oder umgekehrt? Auf lange Sicht gilt mit Sicherheit der pessimistische Gesamtzusammenhang, aber wie ja schon Keynes wusste: Auf lange Sicht sind wir alle tot.

Ironischerweise sind nun die kurzfristigen Aussichten vor allem von dem Verhalten der Börsen-Laien abhängig. Denn wenn der momentane Boom eine so genannte Dienstmädchen-Hausse darstellt, wenn also die vielen neuen Kleinanleger tatsächlich die Börse für eine unerklärliche Wundermaschine halten, ist bei den ersten größeren Verlusten mit Panikverkäufen zu rechnen, ein Crash unausweichlich.

Doch neben der blinden Panik gibt es auch die blinde Gier. Nichts ist vorbestimmt. Sollte also inzwischen die Kapitallogik die Alltagswelt bestimmen, und einiges spricht dafür, dann werden die vermutlich demnächst eintretenden Kurs-Rückgänge nur von dem nachdrängenden Anlagekapital genutzt, um erst recht billige Aktien zu erwerben.

Für den Wert von Neuemissionen wie Infineon ist also die Stimmung am Stammtisch wichtiger als die Eckdaten der Banker. Nach dem viel zitierten Evergreen des Börsen-Altmeisters André Kostolany steigen die Kurse, wenn es mehr Dumme gibt als Aktien, und fallen, wenn es mehr Aktien gibt als Dumme. Bei nüchterner Bilanzierung der Nation wird es also höchste Zeit, sich einige Aktien zuzulegen.