Blonde Bestie umarmt Droschkengaul
Zeitgemäße Betrachtungen. Am 25. August 1900 starb Friedrich Nietzsche. Er gilt als Rebell, er selbst bezeichnete sich als unzeitgemäß. Doch er bejaht den Kern der bürgerlichen Gesellschaft als natürlich und gibt ihr in seiner Beschreibung ihre Ungeheuerlichkeit zurück.
»Indem die mitleidlosen Lehren die Identität von Herrschaft und Vernunft verkünden, sind sie barmherziger als jene der moralischen Lakaien des Bürgertums.« In seiner Verneinung des Mitleids habe Nietzsche darum »das unbeirrbare Vertrauen auf den Menschen gerettet, das von aller tröstlichen Versicherung Tag für Tag verraten wird«. Mit dieser Dialektik des Mitleids analysierten Horkheimer und Adorno die Philosophie Nietzsches gewissermaßen von dem Punkt aus, an dem der Philosoph wahnsinnig wurde und aus Mitleid einen Droschkengaul umarmte. Der gesellschaftliche Wahnsinn, dem der vernünftige Nietzsche Rechnung trug wie kaum ein anderer, geht darin nicht vollständig auf.
Macht und Wert: Nietzsche und Marx
Es gibt eine einfache Analogie zwischen Nietzsche und Marx: Wann immer Nietzsche vom »Willen zur Macht« spricht, scheint eine Art mythische Illustration dessen herauszukommen, was zur selben Zeit Marx als Verwertung des Werts nüchtern, wenn auch erstaunt, untersucht hat. Bei Marx funktionieren Ware und Geld »als verschiedne Existenzweisen des Werts selbst, das Geld seine allgemeine, die Ware seine besondre, sozusagen nur verkleidete Existenzweise»; dieser Wert geht »beständig aus der einen Form in die andre« über, »ohne sich in dieser Bewegung zu verlieren« und verwandelt sich so in ein automatisches Subjekt ... Fixiert man die besondren Erscheinungsformen, welche der sich verwertende Wert im Kreislauf seines Lebens abwechselnd annimmt, so erhält man die Erklärungen: Kapital ist Geld, Kapital ist Ware.«
Bei Nietzsche hingegen hat man es mit einem packenden Naturschauspiel zu tun: »Als Spiel von Kräften und Kraftwellen zugleich Ein und Vieles, hier sich häufend und zugleich dort sich mindernd, ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestalten, aus dem einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-widersprechendste, und dann wieder aus der Fülle heimkehrend zum Einfachen, aus dem Spiel der Widersprüche zurück bis zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen Überdruß, keine Müdigkeit kennt -: diese meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimniß-Welt der doppelten Wollüste, dieß mein Jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat, - wollt ihr einen Namen für diese Welt? Eine Lösung für alle ihre Räthsel? Ein Licht auch für euch, ihr Verborgensten, Stärksten, Unerschrockensten, Mitternächtlichsten? - Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts außerdem! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht - und nichts außerdem.« (Nachgelassene Fragmente)
So macht das automatische Subjekt Spaß. Indem Nietzsche diese Welt als seine Welt bejaht, kann er sie auch ganz anders beschreiben. An einigen Stellen bringt Nietzsche sogar den Mehrwert zur mythischen Sprache: »Woran mißt sich objektiv der Werth? Allein an dem Quantum gesteigerter und organisirter Macht, nach dem, was in allem Geschehen geschieht, ein Wille zum Mehr ...« (Nachgelassene Fragmente) In diesem Willen zum Mehr kann Marx eben nur darum den »Willen« eines - den Handlungen der Menschen zwar entsprungenen, aber ihnen gegenüber verselbstständigten - automatischen Subjekts erkennen, weil er es in der Perspektive seiner Abschaffung denkt; nur darum entgeht er der Gefahr, dieses Subjekt als Natur zu fetischisieren. Aus deren Bereich nimmt Marx hier lediglich einige Metaphern, um den Vorgang der Verwertung des Werts, der bei Nietzsche als naturgegebenes Fatum erscheint, ironisch zu beschreiben: »In der Tat aber wird der Wert hier das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet. Denn die Bewegung, worin er Mehrwert zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung also Selbstverwertung. Er hat die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist. Er wirft lebendige Junge oder legt wenigstens goldne Eier.«
Während Marx die Identität zwischen erster und zweiter Natur, zwischen Fauna und Gesellschaft nur als ironische Analogie verwendet, um einer ungeheuerlichen Sache ein wenig von der Schockwirkung zu nehmen, die ihr doch zugehört, ist es Nietzsche mit dieser Analogie bitter ernst, und die Sache erhält dadurch auch etwas von ihrer wahren Ungeheuerlichkeit zurück. Immerhin spricht ja auch Marx im Vorwort des Kapital davon, dass er »die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß« auffasse.
Kampf ums philosophische Dasein: Nietzsche und Darwin
Wenn in Schopenhauers Philosophie, von der Nietzsche ausgegangen ist, das Mitleid an der Stelle der Negation steht, an der Stelle wirklicher Verneinung jener Verhältnisse, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx), dann affirmiert Nietzsches Denken diese Verhältnisse mitleidlos. Und diese Mitleidlosigkeit gibt er vor, gerade dort gelernt zu haben, wo Schopenhauer sein größtes Mitleid zur Schau trägt: im Reich der Tiere. Kehrte er also zum Ursprung seines Denkens zurück, als er (in der berühmten Turiner Episode vom Anfang des Jahres 1889) den Droschkengaul umarmte? »Ich suche mir ein Thier, das mir nach tanzt und ein ganz klein Bischen mich - liebt ...« (Nachgelassene Fragmente) Die tierische Natur war für Nietzsche lange schon zur bevorzugten Projektionsfläche seiner philosophischen Vorstellungen geworden: Zarathustra lernt die Lehre des »Seins« (die dann Heidegger so sehr beeindrucken sollte) nicht zufällig von den Tieren (1); das Raubtier galt Nietzsche geradezu als Fluchtpunkt seiner Umwertung aller Werte; und selbst noch im Zweifel daran rekurriert er auf die Fauna und nennt die Menschheit, die nicht auf ihn hören will, »eine kleine überspannte Thierart«. Dieser ganz normale Wahnsinn aber, der die Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen als Natur hypostasiert und darum im Innersten mit der kapitalisierten Gesellschaft konform geht, war mit dem wirklichen Wahnsinn, dem Nietzsche schließlich verfiel, dahin. Das Bild des verrückt gewordenen Professors, der dem Pferd weinend um den Hals fällt, steht für diesen Verlust an Funktionalität - und bei all seinem Jammer liegt darin etwas wie Entspannung: Nietzsche rastet aus.
Dass es sich bei Nietzsches deutscher Ideologie um eine spezifische Form der Konformität handelte, zeigt der Vergleich mit dem dominierenden Wissenschaftsdiskurs der Zeit, der Lehre Darwins. Charles Darwin bringt seine Entdeckungen und Erfindungen über die Evolution mit der größten positivistischen Selbstverständlichkeit vor, und mit einiger Nonchalance überträgt er sie aufs Gesellschaftliche. Es kommt ihm in seiner naturwissenschaftlichen Naivität gar nicht in den Sinn, die Kantsche Skepsis zu verallgemeinern, sich auch nur einen Moment über sein eigenes Erkenntnisvermögen zu befragen - von welchem Standpunkt aus, mit welchen Kategorien er das Geschehen in der Natur verfolgt und verfolgen könne. »Es ist merkwürdig«, schrieb darum Marx, »wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, 'Erfindungen' und Malthusschem 'Kampf ums Dasein' wiedererkennt. Es ist Hobbes' bellum omnium contra omnes, und es erinnert an Hegel in der 'Phänomenologie', wo die bürgerliche Gesellschaft als 'geistiges Tierreich', während bei Darwin das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft figuriert.« Wie Darwin in dem hier kritisierten Werk »On the Origin of Species« (1859) die Tiere und Pflanzen gegeneinander antreten lässt, so in seinen späteren Betrachtungen über die »Zuchtwahl des Menschen«, d.h. am Menschen, die Individuen und Rassen: als wären es Unternehmer am nationalen Markt oder Handelsnationen am Weltmarkt oder Sportler im Wettbewerb; der Bessere gewinne, der Verlierer solle sehen, wo er bleibe - so lautet in etwa die Darwinsche Anthropologie. »Wie jedes andere Tier ist auch der Mensch ohne Zweifel auf seinen gegenwärtigen hohen Zustand durch einen Kampf um die Existenz in Folge seiner rapiden Vervielfältigung gelangt, und wenn er noch höher fortschreiten soll, so muß er einem heftigen Kampfe ausgesetzt bleiben ... Es muß für alle Menschen offene Concurrenz bestehen, und es dürfen die Fähigsten nicht durch Gesetze oder Gebräuche daran gehindert werden, den größten Erfolg zu haben und die größte Zahl von Nachkommen aufzuziehen.« (Die Abstammung des Menschen, 1871)
Aber Darwin leitet aus dem evolutionären »struggle for life« keinen metaphysischen Willen zur Macht ab. Mag an diesen Kampf auch der Gedanke des Fortschritts geknüpft sein, der Kampf selbst wird von Darwin nicht eigentlich positiv begriffen, sondern als pure Notwendigkeit zur Erhaltung der Existenz - ganz wie der einzelne Unternehmer seinen Konkurrenzkampf beurteilt. In Form solcher Notwendigkeiten hat die Evolution einen Zustand hervorgebracht, in dem nun andere Kräfte wirksam werden können: moralische, erzieherische etc., die im Kampf ums Dasein nicht aufgehen - und die auch nicht mehr zurückgenommen werden sollen oder können. Darum weicht die Differenz zwischen Tier und Mensch, Natur und Gesellschaft bei Darwin keinem allumfassenden Prinzip, keinem Willen zur Macht: »So bedeutungsvoll der Kampf um die Existenz gewesen ist, so sind doch, soweit der höchste Teil der menschlichen Natur in Betracht kommt, andere Kräfte noch bedeutungsvoller: denn die moralischen Eigenschaften sind entweder direct oder indirect viel mehr durch die Wirkung der Gewohnheit, durch die Kraft der Überlegung, Unterricht, Religion usw. fortgeschritten, als durch natürliche Zuchtwahl ...«
Ganz anders hingegen die Rassenkunde Nietzsches. Sie steigert das »szientifische Prinzip ins Vernichtende« (Horkheimer / Adorno). Der deutsche Philosoph hat Darwin rezipiert - dessen Entdeckungen und Erfindungen übernehmen in seinem geistigen Haushalt gewissermaßen die Rolle des gesunden Menschenverstands. Nietzsche verhält sich zur Evolutionslehre also ungefähr wie Fichte zur Mathematik: während dieser aus den formalen Voraussetzungen der mathematischen Wissenschaft eine nationale Identitätslogik kreiert, macht jener aus den unreflektierten Paradigmen der Evolution eine Metaphysik der Rasse; wenn Fichte das nationale Bewusstsein zur Identifikation mit der formellen Identität A = A einlädt, so möchte Nietzsche ihm die Einfühlung ins Tier empfehlen - oder besser: in jenes Wesen, das er als Tier phantasiert.
Ja, bei Nietzsche wächst die Sehnsucht nach solcher Einfühlung gerade aus dem Unbehagen an der formalen Logik. Bereits 1873 schreibt er: »Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen. So gewiß nie ein Blatt einem andern ganz gleich ist, so gewiß ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das 'Blatt' wäre ...« (Über Wahrheit und Lüge). Fast erweckt die Passage den Eindruck, als hätte Nietzsche von der Erstauflage des Marxschen Kapital (1867) abgeschrieben, wo es über den relativen Ausdruck des Warenwerts heißt: »Es ist als ob neben und außer Löwen, Tigern, Hasen und allen andern wirklichen Thieren, die gruppiert die verschiednen Geschlechter, Arten, Unterarten, Familien usw. des Thierreichs bilden, auch noch das Thier existirte, die individuelle Incarnation des ganzen Thierreichs.«
Auch der junge Nietzsche spricht davon, dass der Mensch sein Handeln »unter die Herrschaft der Abstraktionen« stelle, und in der Genealogie der Moral von 1887 heißt es schließlich: »Preise machen, Werte abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen - das hat in einem solchen Maße das allererste Denken der Menschen präokkupiert, daß es in einem gewissen Sinn das Denken ist ...« Näher ist Nietzsche kaum je dem Problem der realen Abstraktion gekommen, aber - so lautstark er auch verkündet hat, mit dem Hammer zu philosophieren - er wollte eigentlich nie ihre Voraussetzungen antasten. Der Mensch, der sein Handeln unter die Herrschaft der Abstraktionen stellt, bleibt immer in der Einzahl: Nietzsche kann oder will die Abstraktionen nicht als gesellschaftliches Verhältnis zwischen den Menschen wahrnehmen. Und darum führt seine Zuspitzung der Kantschen Kritik der reinen Vernunft notwendig zur Aufgabe der Kritik, das deutet sich bereits sehr früh an: »Was ist für uns überhaupt ein Naturgesetz? ... nur das was wir hinzubringen, die Zeit, der Raum, also Sukzessionsverhältnisse und Zahlen, sind uns wirklich daran bekannt. Alles Wunderbare aber, das wir gerade an den Naturgesetzen anstaunen, das unsere Erklärung fordert ... liegt gerade und ganz allein nur in der mathematischen Strenge und Unverbrüchlichkeit der Zeit- und Raum-Vorstellung. Diese aber produzieren wir in uns und aus uns mit jener Notwendigkeit, mit der die Spinne spinnt; wenn wir gezwungen sind, alle Dinge nur unter diesen Formen zu begreifen, so ist es dann nicht mehr wunderbar, daß wir an allen Dingen eigentlich nur eben diese Formen begreifen: denn sie alle müssen die Gesetze der Zahl an sich tragen, und die Zahl gerade ist das Erstaunlichste in den Dingen« (Über Wahrheit und Lüge).
Die Metapher der Spinne ist nicht beiläufig gewählt. Sie wirkt wie ein Sedativ. Nur eine neu geschaffene Vorstellung von Natur vermag jenem Erstaunen über die hypostasierte Zahl die kritische Schärfe zu nehmen. Nietzsche hat offenbar kein Interesse, die Notwendigkeit, mit der die Menschen ihre Zeit- und Raum-Vorstellungen produzieren, als gesellschaftliche und darum als veränderbare zu verstehen. Die Kritik des begreifbaren Naturgesetzes schlägt um in die freiwillige Unterwerfung unters unbegreifbare Naturgesetz (also unter etwas, das für Kant eine contradictio in adjecto war). »'Naturgesetz': als Formel für die unbedingte Herstellung der Macht-Relationen und -Grade»; und das »Kriterium der Wahrheit liegt in der Steigerung des Machtgefühls.« Die Erkenntnis, dass die Menschen ihre eigenen Verhältnisse auf die Natur projizieren, die Darwin ganz fern lag, führt hier nicht zu einem Begriff dieser Verhältnisse, sondern lässt sie erst recht in einer zur Natur erklärten Projektion aufgehen.
In dieser Affirmation jedoch spricht sich zuletzt die Hoffnung auf eine staatliche Macht aus, die sich gegenüber den Abstraktionen behaupten könnte und sie im Sinne des Willens zur Macht in Dienst nähme. So stimmt die Analogie zwischen dem Wertbegriff von Marx und dem Machtbegriff von Nietzsche nur halbwegs: Sie klammert nämlich aus, dass im Willen zur Macht der Staat in ganz bestimmter Weise aufs Kapital bezogen ist, ja dass gerade aus diesem Bezug die mystische und ästhetisierte Form des Begriffs entspringt. (Versucht Nietzsche ihn zu entmystifizieren, bedient er sich sogleich zweier signifikanter Projektionen - einer nationalistischen und einer antisemitischen: Die »preußischen Offiziere« und die »jüdischen Bankiers«, beide zusammen sollen in seiner Sicht den Willen zur Macht repräsentieren.) Im Unterschied zu Fichte erscheint jedenfalls der Eingriff des Staates, wie ihn Nietzsche denkt, als wesentlich bedrohlicher, unberechenbarer und furchterregender für das einzelne Individuum. Während Fichte mit seinen, am mathematischen Denken geschulten Vorschlägen zur Verbesserung der polizeilichen Fahndungsmethoden (in den Grundlagen des Naturrechts von 1796 nimmt er die Fotografie im Pass vorweg) den deutschen Spießern totale Sicherheit des Eigentums zu verschaffen versprach, will sie Nietzsche mit seinem aus dem Kampf ums Dasein geschöpften Willen zur Macht aufschrecken und der Gefahr aussetzen, alles zu verlieren. Zielte der antinapoleonisch gesinnte Philosoph auf die Ausgrenzung alles Nichtdeutschen aus der Nation, um ein mit sich selbst absolut identisches Volk zu bekommen, so malt sich der philosophische Gegner des Sozialismus die Nation als eine Arena aus, in der das schöne Raubtier jederzeit seine Zähne ins hässliche Herdentier schlagen kann.
Blonde Bestie und jüdische Instinkte: Zuchtwahl in Europa
Gerade im ästhetischen Surplus, das Nietzsche philosophisch einbringt und worin er über Darwin hinausging, offenbart sich der deutsche Wahn in seiner modernisierten Gestalt. Tatsächlich ästhetisiert Nietzsche den Begriff der Rasse, um ihn zur Mobilisierung im nationalen Sinn zuzurichten. Er philosophiert zu einer Zeit, als diese nationale Konstituierung im Äußeren zwar kriegerisch, nach innen aber geradezu friedlich erfolgte: d.h. während sich das Deutsche Reich im Krieg gegen Frankreich etablierte, wurden im Inneren die Gesetze erlassen, die eine Gleichstellung aller Bürger bedeuteten, und eine Kultur zelebriert, die sich auf ihren Humanismus alles zugute hielt.
Im selben Maß allerdings, in dem Nietzsche seinen Wunschtraum einer nationalen Mobilisierung formuliert, macht er auf den Zusammenhang von innen und außen, Frieden und Krieg, in der kapitalisierten Gesellschaft aufmerksam: »Dieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind, die andrerseits im Verhalten zueinander so erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen - sie sind nach außen hin, dort wo das Fremde, die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassene Raubtiere. Sie genießen da die Freiheit von allem sozialen Zwang, sie halten sich in der Wildnis schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschließung und Einfriedigung in den Frieden der Gemeinschaft gibt, sie treten in die Unschuld des Raubtier-Gewissens zurück, als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheußlichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermute und seelischen Gleichgewichte davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei, überzeugt davon, daß die Dichter für lange nun wieder etwas zu singen und zu rühmen haben. Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubtier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blonde Bestie nicht zu verkennen; es bedarf für diesen verborgenen Grund von Zeit zu Zeit der Entladung, das Tier muß wieder heraus, muß wieder in die Wildnis zurück - römischer, arabischer, germanischer, japanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger - in diesem Bedürfnis sind sie sich alle gleich. Die vornehmen Rassen sind es, welche den Begriff 'Barbar' auf all den Spuren hinterlassen haben, wo sie gegangen sind; noch aus ihrer höchsten Kultur heraus verrät sich ein Bewußtsein davon und ein Stolz selbst darauf ... Diese 'Kühnheit' vornehmer Rassen, toll, absurd, plötzlich, wie sie sich äußert, das Unberechenbare, das Unwahrscheinliche selbst ihrer Unternehmungen ..., ihre Gleichgültigkeit und Verachtung gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen, ihre entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstören, in allen Wollüsten des Siegs und der Grausamkeit - alles faßte sich für die, welche daran litten, in das Bild des 'Barbaren', des 'bösen Feindes', etwa des 'Goten', des 'Vandalen' zusammen. Das tiefe, eisige Mißtrauen, das der Deutsche erregt, sobald er zur Macht kommt, auch jetzt wieder - ist immer noch ein Nachschlag jenes unauslöschlichen Entsetzens, mit dem jahrhundertelang Europa dem Wüten der blonden germanischen Bestie zugesehn hat (obwohl zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine Begriffs-, geschweige eine Blutsverwandtschaft besteht).« (Jenseits von Gut und Böse 1886)
Nietzsches Interesse richtet sich jedoch nicht allein auf die Rückkehr der blonden Bestie. Nationale Identität möchte er als etwas wesentlich Dynamisches verstanden wissen - um sie zu dynamisieren, spricht er ja von Rassen; das Sein ist kein Zustand mehr, sondern ein Prozess, soviel hat Nietzsche von Hegel gelernt, dessen Dialektik er ja auch bei Darwin am Werk sieht. Sein Interesse richtet sich darum auf die Zukunft: Die blonde Bestie, die da auf dem Grund aller vornehmen Rassen ruht, wäre durchaus höherzuzüchten, und an Vorschlägen dafür lässt Nietzsche es bis zuletzt nicht fehlen.
Nicht zufällig ist diese Bestie blond. So sehr sich Nietzsche insbesondere in den letzten Lebensjahren vor der Umnachtung von den vulgären deutschen Nationalisten seiner Zeit zu distanzieren sucht, im rassistischen Substrat einer Vorherrschaft der Blonden ist er mit ihnen einig; und wie immer er sich von den primitiven Antisemiten absetzen möchte, er kann die Blondheit seiner Bestie immer nur mit der Andersartigkeit ihrer Opfer sichtbar machen: »Man mag im besten Rechte sein, wenn man vor der blonden Bestie auf dem Grunde aller vornehmen Rassen die Furcht nicht los wird und auf der Hut ist; aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten, wenn er zugleich bewundern darf, als sich nicht fürchten, aber dabei den ekelhaften Anblick des Mißratenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten nicht mehr loswerden können?« (Zur Genealogie der Moral).
Dieser Anblick weckt in der blonden Bestie den Killer-Instinkt. Weniger deutlich als Wagners Dramaturgie ist Nietzsches Philosophie vom Ekel vor den Juden gekennzeichnet; aber wenn die Situation es erfordert, verhält sie sich durchaus wie Siegfried zu Mime und schlägt einen tot: »Ein Jude mehr oder weniger - was liegt daran?« sagt Nietzsche im Antichrist - also in seiner letzten Schaffensperiode, in der er sich zugleich als »antideutscher« und »antinationaler« Denker versteht und die »Antisemiten« attackiert. Konkret ist an dieser Stelle niemand anders als Jesus gemeint. Die Juden werden als Erfinder des Christentums verstanden, und dieses wird wiederum als Verneiner des Willens zur Macht verfolgt. Dabei hat doch auch Nietzsche von diesem Christentum die antisemitische Identifikation der Juden mit der Geldmacht übernommen: sie gelten ihm als die »Genies des Geldes und der Geduld«. In der Fröhlichen Wissenschaft von 1882 nennt er das Judentum »eine welthistorische Veranstaltung zur Züchtung von Schauspielern, ... eine eigentliche Schauspielerbrutstätte.« Juden zeichnen sich in Nietzsches Sicht dadurch aus, dass sie - eben wie der Tauschwert - jede Gestalt anzunehmen vermögen, jede Rolle spielen können, die ihnen angeboten wird. Noch in seinen letzten Briefen erscheinen ihm die Juden als bloße »'Vermittler' - sie erfinden nichts«. Wie bei allen modernen Antisemiten ist die Personifizierung des Tauschwerts mit dem Konzept der Verschwörung verbunden - Nietzsche schreibt, dass »der Jude als der geborene Literat, als der tatsächliche Beherrscher der europäischen Presse diese seine Macht auf Grund seiner schauspielerischen Fähigkeit ausübt« (Die fröhliche Wissenschaft). Und in anderem Zusammenhang heißt es, dass Europa den Juden »irgendwann einmal wie eine völlig reife Frucht ... in die Hand fallen dürfte« (Morgenröte 1887).
So gelten Nietzsche die Juden nicht so sehr als Verneiner des Willens zur Macht (obwohl sie doch das Christentum erfunden haben), sie stehen vielmehr in seinem geistigen Haushalt für einen negativen Aspekt dieses Willens. Das Unschöne, eigentlich Ekelerregende des Aspekts, das offen oder indirekt betont wird, darf jedoch nicht allzu hoch bewertet werden, denn der Wille zur Macht bedeutet ja nichts anderes als rückhaltlose Affirmation des Ganzen. Es reicht darum bloß zu vielen kleinen Denunziationen von Juden, zu zahlreichen abschätzigen Bemerkungen übers Judentum. Zugleich benötigt Nietzsche es als eine Art Gegengift zum lasch gewordenen deutschen Bürgertum und als taktisches Mittel zur Ausmerzung des Christentums. (2)
Nietzsche ist kein Philosoph der unmittelbaren Krise, er ist in gewisser Weise der Philosoph der Gründerzeit und der Prosperität: er glaubt an die nutzbringende Macht des Geldes und toleriert darum die Juden. Er personifiziert in ihnen jene formale Logik, die ihm zwar Unbehagen bereitet, deren Voraussetzungen er aber keineswegs in Frage stellen möchte: die jüdischen Gelehrten, heißt es in der Fröhlichen Wissenschaft, »halten große Stücke auf die Logik, das heißt auf das Erzwingen der Zustimmung durch Gründe; sie wissen, daß sie mit ihr siegen müssen, selbst, wo Rassen- und Klassen-Widerwille gegen sie vorhanden ist, wo man ihnen ungern glaubt. Nichts nämlich ist demokratischer als die Logik: sie kennt kein Ansehen der Person und nimmt auch die krummen Nasen für gerade. (Nebenbei bemerkt: Europa ist gerade in Hinsicht auf Logisierung, auf reinlichere Kopfgewohnheiten den Juden nicht wenig Dank schuldig; voran die Deutschen, als eine beklagenswert deraisonnable Rasse, der man auch heute immer noch zuerst 'den Kopf zu waschen' hat.)«
Darum ist die Bemerkung, dass Europa den Juden irgendwann einmal wie eine völlig reife Frucht in die Hand fallen dürfte, durchaus optimistisch gemeint - wenn auch mit einem bösen ironischen Unterton. Wer - wie Léon Poliakov - nur nach Stellen in Nietzsches Schriften sucht, wo Juden schlecht gemacht werden, wird bei solchen Passagen einigermaßen erleichtert aufatmen. In Jenseits von Gut und Böse schlägt Nietzsche sogar vor, dem Drang reicher Juden zur Assimilation, »der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen Instinkte ausdrückt«, entgegenzukommen - »mit aller Vorsicht, mit Auswahl; ungefähr so, wie der englische Adel es tut«. Auf der Hand liege, dass »am unbedenklichsten noch sich die stärkeren und bereits fester geprägten Typen des neuen Deutschtums« mit jenen »Genies des Geldes und der Geduld« »einlassen« könnten. Es geht Nietzsche bekanntlich um die Züchtung einer »neuen, über Europa regierenden Kaste«.
Da bei Nietzsche die abstrakte Macht des Geldes ungebrochen mit Judentum identifiziert wird, zeigt sich bei ihm eine neue, rassistische Form der Toleranz. Im selben Kapitel von Jenseits von Gut und Böse, das die Assimilation als Züchtungsprogramm vorschlägt, ist darum auch die Warnung zu lesen, dass »Deutschland reichlich genug Juden hat, daß der deutsche Magen, das deutsche Blut Not hat (und auch auf lange Not haben wird), um auch nur mit diesem 'Quantum' Jude fertig zu werden - so wie der Italiener, der Franzose, der Engländer fertig geworden sind infolge einer kräftigeren Verdauung -: das ist die deutliche Aussage und Sprache eines allgemeinen Instinktes, auf welchen man hören, nach welchem man handeln muß. 'Keine Juden mehr hereinlassen! Und namentlich nach dem Osten (auch nach Österreich) zu die Tore zusperren!' Also gebietet der Instinkt eines Volkes, dessen Art noch schwach und unbestimmt ist, so daß sie leicht verwischt, leicht durch eine stärkere Rasse ausgelöscht werden könnte.«
Der Prophet der Krise
Nietzsche ist der Philosoph der Gründerzeit, aber einer Gründerzeit, die durch den Börsenkrach von 1873 und die darauffolgende »Große Depression« bereits ihren Schock bekommen hat. Seine einzigartige Stellung liegt darin, dass er nicht unmittelbar auf diesen Schock reagiert, und wie die vielen Antisemiten, die nun wie Pilze aus dem Boden schießen, die Juden als »Verursacher« der Krise halluziniert und verfolgt, sondern im Gegenteil die Krise bejaht, indem er für die Zukunft eine viel größere prophezeit: »Ich beschreibe, was kommt: die Heraufkunft des Nihilismus.« Immer wieder hat sich Nietzsche selbst als Prophet der Krise dargestellt: »Ich kann hier beschreiben, weil hier etwas Nothwendiges sich begiebt - die Zeichen davon sind überall, die Augen nur für diese Zeichen fehlen noch ... ich glaube, es giebt eine der größten Krisen, einen Augenblick der allertiefsten Selbstbesinnung des Menschen: ob der Mensch sich davon erholt, ob er Herr wird über diese Krise, das ist eine Frage seiner Kraft: es ist möglich ...« (Nachgelassene Fragmente)
Allerdings hat es den Anschein, als ob Nietzsche diese Krise »nur« als eine der geistigen und moralischen Werte beschreibt: »Der moderne Mensch glaubt versuchsweise bald an diesen, bald an jenen Werth und läßt ihn dann fallen: der Kreis der überlebten und fallengelassenen Werthe wird immer voller; die Leere und Armut an Werthen kommt immer mehr zum Gefühl; die Bewegung ist unaufhaltsam - obwohl im großen Stil die Verzögerung versucht ist - Endlich wagt er eine Kritik der Werthe überhaupt; er erkennt deren Herkunft; er erkennt genug, um an keinen Werth mehr zu glauben; das Pathos ist da, der neue Schauder ... Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte ...« (Nachgelassene Fragmente).
Was Nietzsche jedoch als Verfall und Ende geistiger Werte begreift, ist nichts anderes als die Durchsetzung des Tauschwerts in allen gesellschaftlichen Beziehungen, wodurch eben diese Beziehungen selbst austauschbar, im Sinne Nietzsches: entwertet werden. Religion und Moral haben gesellschaftliche Beziehungen stets als Werte fetischisiert, und insofern läßt sich sagen: diese Werte werden entwertet durch die Verwertung des Werts. An keinen dieser Werte mehr zu glauben, heißt darum - mit Marx gesprochen: nur mehr an den Wert zu glauben; mit Heidegger gesprochen: an das Sein.
Im Übermenschen, schreibt Christoph Türcke, »bäumt sich Nietzsche gegen die spezifische Form der Abstraktion auf, die in der modernen Gesellschaft zum Herrschaftsprinzip geworden ist« (3). Aber dieses Aufbäumen geschieht ganz so, wie der Staat sich gegen den Markt aufbäumt, wenn das Herrschaftsprinzip ernsthaft in Gefahr gerät.
Anmerkungen
(1) »Alles geht, alles kommt zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, alles blüht wieder auf, ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins.«
(2) »Da es sich um einen Vernichtungsschlag gegen das Christentum handelt«, schreibt er 1888 an Georg Brandes, »so liegt auf der Hand, daß die einzige internationale Macht, die ein Instinkt-Interesse an der Vernichtung des Christentums hat, die Juden sind (...) Folglich müssen wir aller entscheidenden Potenzen dieser Rasse in Europa und Amerika sicher sein - zu alledem hat eine solche Bewegung das Großkapital nötig.«
(3) Christoph Türcke: Der tolle Mensch. Frankfurt am Main 1989, S. 134. Der Versuch, das Nietzsche-Bild der Dialektik der Aufklärung antikapitalistisch zuzuspitzen, führt hier zu merkwürdigen Konsequenzen: »Der Wunsch, nicht mehr Rechnungsposten, nicht mehr Manövriermasse eines abstrakten Wirtschaftsgesetzes zu sein, erzeugt die Sehnsucht nach einer Rücksichtslosigkeit und Unberechenbarkeit großen Stils, wo der Mensch, durch nichts mehr identifiziert und klassifiziert, erst ganz er selbst wäre. Diese Sehnsucht, von der niemand, der in dieser Epoche zu leben gezwungen ist, ganz frei zu sein sich schmeicheln kann, ist faschistoid, aber der Faschismus ist der Hohn auf sie, nicht ihre Erfüllung.«