Aids-Politik

Jenseits von Afrika

Eine Aids-Kritik, die die Sicht der Betroffenen auslässt, ist unbrauchbar. Die Krankheit ist nicht nur ein medizinisches Problem. Das Beispiel Tansania.

In seiner Kolumne über die Welt-Aids-Konferenz schrieb ein US-amerikanischer Journalist: »Wenn Aids Südafrikas größte Bedrohung ist, dann ist Fußball seine größte Leidenschaft. Ich kam zu einem internationalen Gespräch über Aids, aber ganz Südafrika sprach über den Weltcup. Die Presse und die Öffentlichkeit waren in Rage, als die Ausrichtung der Weltmeisterschaft 2006 an Deutschland verloren wurde. Die Entscheidung sei rassistisch gewesen und zu Gunsten Europas ausgefallen. 'First world über alles' titelte der Daily Mail & Guardian.«

Auf den ersten Blick enthält diese Zeitungsnotiz eine Parallele zur Kontroverse, die der Aids-Konferenz in Durban vorausging. Der südafrikanische Präsident Thabo Mbeki hatte konventionelle Aids-Theorien in Frage gestellt und sich damit heftiger Kritik von westlichen Wissenschaftlern ausgesetzt, eine Kritik, die für die Öffentlichkeit den Hegemonie-Anspruch des Westens zu bestätigen schien. Auf den zweiten Blick ist diese Schilderung jedoch bezeichnend für das Desinteresse an der Epidemie, das die Situation in vielen afrikanischen Ländern prägt.

Beispielhaft steht hierfür das ostafrikanische Land Tansania. Die Regierung hat sich zwar schon vor Jahren zu einem Ansatz in der Aids-Arbeit bekannt, der neben dem Gesundheitsbereich alle anderen gesellschaftlichen Sektoren in die HIV-Prävention einbeziehen will. Präsident Benjamin Mkapa hat das Jahr 2000 unter das Motto »Kampf gegen Aids« gestellt, doch folgen den Reden von Politikern kaum einmal Taten. Es entsteht der Verdacht, es handele sich um ein ausgefeiltes politisches Szenario für die internationalen Geldgeber.

Dies bereitet landesweit den Boden für einen diffusen Umgang mit Aids. Christliche Kirchen kritisieren die Regierung öffentlich für ihre Kondom-Werbung. In der Rhetorik christlicher und islamischer Religionen, zu denen sich etwa zwei Drittel der Tansanier bekennen, ist die Krankheit eine Strafe Gottes, und es wird bedenkenlos für einen moralischeren Lebenswandel plädiert.

Dieser Diskurs findet in der tansanischen Bevölkerung ein starkes Echo. Auch hier wird die Aids-Problematik vorwiegend moralisch und vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Transformationen diskutiert. Der Übergang zur Marktwirtschaft seit Mitte der achtziger Jahre führte insbesondere in den ländlichen Gebieten zu einer Verschlechterung der Lebenssituation sowie zu Frustration und Unsicherheit.

Ein Beispiel hierfür ist das ländliche Mara-Gebiet am Viktoriasee. Bei Recherchen zu den Themen Aids und sozialer Wandel zeigte sich vor allem in der jungen Generation, dass Aids zu einer Metapher für die gesellschaftlichen Missstände und die moralische Verkommenheit der heutigen Zeit geworden ist. Die Jugendlichen, die nur teilweise eine höhere Schule besuchen konnten und meist von Gelegenheitsarbeiten, Kleinhandel und Ackerbau leben, waren sich einig, dass der soziale Wandel den Boden für die Ausbreitung von Aids bereitet hat.

Dabei berufen sie sich auf eine idealisierte Vergangenheit, in der die sozialen Beziehungen und Hierarchien zwischen den Generationen und Geschlechtern eindeutig und konfliktlos gewesen seien. Durch die Einführung der »Geldökonomie« in der Kolonialzeit, meinen sie, habe sich dies verändert. Wo früher Subsistenzwirtschaft und Tauschhandel die soziale Ordnung reproduziert hätten, seien die Hierarchien nun auf den Kopf gestellt worden. Heute, sagen die Jugendlichen, könnten junge Frauen und Männer eine höhere Position einnehmen als ihre Ehemänner bzw. ihre Eltern: Durch das Geld, das sie mit Handel oder Arbeit verdienen, steige ihre Autorität.

Die drohende Umkehrung einst eindeutiger Hierarchien wird von den Jugendlichen selbst kritisiert. Die jüngere Generation, sowohl Männer als auch Frauen, denke vor allem an ihren eigenen Profit und ihr eigenes Weiterkommen. Werte wie Solidarität und Allgemeinwohl hätten an Bedeutung verloren, und die Großfamilie stehe vor der Auflösung.

Besonders Frauen und junge Mädchen geraten in den Fokus der Kritik, weil ihnen unterstellt wird, »gierig« nach Geld zu sein. Frauen wird vorgeworfen, neben ihrer Arbeit oder ihrem Handel sexuelle Verhältnisse für Geld einzugehen. Junge Mädchen hätten ihre Sexualität zu einer Ware gemacht. In der ökonomischen Komponente sexueller Beziehungen suchen viele Jugendliche dann auch die Begründung für die Stigmatisierung von Frauen und Mädchen.

Obwohl das Basiswissen über Infektionswege und Schutz vor HIV unter den Jugendlichen weitgehend vorhanden ist, muss der individuell praktizierte Umgang damit im Rahmen dieser Diskurse verstanden werden: Kondome werden mit unmoralischem Lebenswandel assoziiert. Mit der Forderung nach einem Kondom setzen sich insbesondere Frauen und Mädchen dem Verdacht aus, sexuell zu erfahren und daher vielleicht selbst HIV-infiziert zu sein. Junge Männer stellen lieber in ihrem Freundeskreis Nachforschungen über die Gesundheit ihrer Partnerin an, als sie direkt bei ihrer Freundin zu thematisieren. Eine Kommunikation über den Schutz vor HIV in Partnerschaften ist daher kaum vorhanden.

Solange HIV und Aids nicht oberste Priorität gewinnen und spektakuläre Versprechungen der Politiker nicht in die Tat umgesetzt werden, wird auch in der Bevölkerung kaum eine direkte Auseinandersetzung mit dem Thema stattfinden. Der Einsatz von Aids-Medikamenten ist dabei ein zweitrangiger Aspekt. Für eine effektive Aids-Arbeit müsste zum einen die Infrastruktur im Gesundheitsbereich aufgebaut werden. Zum anderen müssen Perspektiven und Interessen der Bevölkerung zum Mittelpunkt der Aids-Arbeit gemacht werden.

HIV-Prävention kann kein ausschließlich medizinisches Problem sein, da sie in einem größeren sozialen Rahmen stattfindet. Die Meinung der Jugendlichen am Viktoriasee, dass Frauen heute eine höhere Position einnehmen, kontrastiert auffallend mit der Tatsache, dass Frauen gesellschaftlich kaum legitimiert sind, die Verwendung von Kondomen einzufordern. Einige Aids-Organisationen haben daher die soziale Besserstellung von Frauen zu einem Bestandteil ihrer Arbeit gemacht. Gesellschaftliche Prozesse wie die Gleichberechtigung der Geschlechter sind jedoch konflikthaft. Die Diskussion über den Widerspruch zwischen »traditionellen« und »modernen« Normen, in den Männer und Frauen gleichermaßen geraten, ist deshalb wesentlich.

Eine Aids-Kritik, die sich vermeintlich auf die Seite der Betroffenen in Afrika schlägt, ist vor diesem Hintergrund wenig hilfreich. Nicht nur werden stereotype Bilder von einem Kontinent, der von Armut, Hunger und Krankheiten geplagt sei, weiter hochgehalten und reproduziert. Das Leugnen des Aids/HIV-Zusammenhangs stiftet zudem noch größere Verwirrung und nährt einen moralischen und stigmatisierenden Diskurs, der die Entstehung der Krankheit allein auf soziale Missstände zurückführt. Das Gefühl, in den USA und in Europa betreibe man erfolgreiche Prävention und Therapie, während für Afrika die Existenz der Krankheit bestritten wird, taugt hier nur zu einem weiteren Beweis für globale Ungerechtigkeit und die Überheblichkeit der westlichen Länder. Und damit wären wir wieder beim Fußball.