Neue Untersuchungen zum Staatsterror der 60er und 70er Jahre

Der geheime Kampf der Gladiatoren

Italienische Staatsanwälte haben die Existenz einer weiteren bewaffneten Untergrund-Organisation zutage gefördert.

Der dezente Hinweis stiftete jede Menge Verwirrung: Ende Oktober hatte Giovanni Pellegrino, der Vorsitzende der parlamentarischen Untersuchungskommission, angedeutet, dass der italienischen Ex-Premier Giulio Andreotti mit seinem Eingeständis von 1990, mit Gladio habe eine geheime paramilitärische Struktur existiert, der Öffentlichkeit nur »einen Knochen« vorgeworfen habe. Auf diese Weise wollte Andreotti lediglich von der Existenz einer noch viel geheimeren und wahrscheinlich noch älteren Organisation ablenken. Vergangene Woche nun sorgte die Nachricht für Aufmerksamkeit, dass ein bisher unbekannter paralleler Geheimdienst bis in die späten siebziger Jahre mit Anschlägen und Morden die politische Stimmung beeinflusst haben soll.

Bisher galt Gladio als konkurrenzlos in Italien. Mit der geheimen Organisation hatten die regierenden Christdemokraten mit US-amerikanischer Unterstützung den Status quo bis in die siebziger Jahre hinein wahren können. Noch immer ist wenig über die inoffizielle, mit der Nato verbundene Struktur bekannt. Eine weitere, ähnlich gut ausgestattete halbstaatliche Organisation neben Gladio schien kaum vorstellbar.

Umso größer war die Überraschung, als vergangene Woche die Staatsanwaltschaft von Brescia ihre bisherigen Untersuchungsergebnisse veröffentlichte. Sollten sich die Schlussfolgerungen der Staatsanwäte bewahrheiten, »sind wir gezwungen, die Jahre der Massaker in einem völlig anderen Licht zu sehen«, kommentierte etwa der Grüne Athos De Luca, Mitglied der parlamentarischen Untersuchungskommission zu den Staatsmassakern. Der Noto Servizio (»bekannter Dienst«), wie die Informanten der Staatsanwaltschaft die halbstaatliche Parallelstruktur nennen, scheint unter anderem in zwei historische Bombenanschläge in Italien verwickelt gewesen zu sein: 1969 kamen auf der Mailänder Piazza Fontana 16 Menschen ums Leben; 1974 starben in Brescia acht Teilnehmer einer Gewerkschaftsdemonstration und mehr als hundert wurden verletzt.

Der bislang unbekannte Geheimbund entstand offenbar bereits in den letzten Kriegsmonaten. Den Kern der Organisation bildeten Überreste des faschistischen Geheimdienstes SIM und Angehörige der christdemokratischen weißen Partisanen. Den Gründungsmitgliedern schlossen sich zudem Journalisten und Politiker wie der neofaschistische MSI-Abgeordnete Giorgio Pisanò an. Auch Angehörige von Polizei und Militär sollen für den »bekannten Dienst« gearbeitet haben. Auffallend ist, dass viele der Namen auf der Liste der Staatsanwaltschaft auch in anderen mysteriösen Zusammenhängen wieder auftauchen: beispielsweise Pater Enrico Zucca, der während der Verhandlungen zur Befreiung Aldo Moros bekannt wurde.

Auch die Beziehungen zu führenden Politikern haben einen Namen: Der ehemalige Salò-Pilot Alberto Titta rühmte sich seines guten Verhältnisses zum 19maligen Minister und siebenmaligen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti, den er liebevoll »den Buckligen« nannte. Für die finanzielle Unterstützung sorgten Mailänder Unternehmer wie Sigfrido Battaini. Immerhin zahlte der Dienst dem Bericht zufolge nicht nur ein monatliches Gehalt an seine 164 Mitglieder, sondern unterhielt auch ein eigenes Waffenlager in der Mailänder Carabinieri-Kaserne Moscova.

Zur ihren Ergebnissen kam die Staatsanwaltschaft in Brescia, die in dem letzten noch laufenden Verfahren zu den Staatsmassakern ermittelt, nach einem Aktenstudium in den Archiven der Abteilung für vertrauliche Angelegenheiten im Innenministerium. Jahrzehntelang lagerten die Dokumente unbeachtet in den staatlichen Archiven. Nur hat sich bislang niemand für sie interessiert.

Selbst die Ziele der Organisation sind dokumentiert: »Aufgabe des Dienstes war immer, das Voranschreiten der Linken und eine substanzielle Veränderung in der Situation der italienischen Politik zu verhindern«, heißt es in einem Papier vom 4. April 1972. So scheint sich der Noto Servizio auch aktiv an der Strategie der Spannung beteiligt zu haben, an der Stabilisierung durch Destabilisierung, wie sie der Neofaschist Vincenzo Vinciguerra definierte. Eine Aufzeichnung beschreibt, wie der Noto-Angehörige Tom Ponzi nach dem Staatsmassaker auf der Piazza Fontana auf Anfrage der Carabinieri einem Verdächtigen eine neue Identität verschaffte.

Der Kampf gegen den Kommunismus richtete sich nicht nur gegen die Linke, sondern auch gegen wankelmütige Christdemokraten und Sozialisten. So heißt es in dem Dokument von 1972, die Sozialistische Partei solle dazu gebracht werden, »sich auf die Position eines unbedingten Antikommunismus festzulegen«. Alberto Titta brüstete sich nach Informationen der Tageszeitung La Repubblica damit, zwei Sozialisten durch inszenierte Autounfälle aus dem Weg geschafft zu haben.

Die Staatsanwaltschaft in Brescia hat zudem Hinweise gefunden, dass der Noto Servizio auch in das dortige Bombenattentat von 1974 verwickelt war. Eine Notiz beschreibt die Sorge der Organisation, dass, wenn Gianni Nardis Rolle bei dem Anschlag bekannt würde, die gesamte Struktur auffliegen könnte.

In seinem gerade erschienenen Interviewbuch beschreibt der Kommissionsvorsitzende Pellegrino, welche Zusammenhänge er hinter dem Anschlag in Brescia sieht. Anfang der siebziger Jahre scheint sich die institutionelle Rechte in Italien von der außerparlamentarischen Rechten distanziert zu haben. Pellegrino sieht in dem Anschlag in Brescia eine Warnung an diejenigen, die die Rechtsextremisten benutzt hatten und nun wieder loswerden wollten.

Interessant sind in diesem Zusammenhang fast vergessene Vorgänge vom November 1972: Der damalige christdemokratische Parteisekretär, Arnaldo Forlani, kündigte in La Spezia an, Beweise für einen antidemokratischen Plan der reaktionären Rechten vorlegen zu wollen. Natürlich löste Forlani dieses Versprechen nie ein. Dafür erhielten die Zeitungsredaktionen ein paar Tage später einen anonymen Brief aus gut informierten Kreisen, der Andreottis Verbindungen zu Rechtsextremen erwähnte. Pellegrino zufolge geriet Andreotti unter Druck und beendete diese Kontakte. Rechtsextremistische Anschläge seien die Antwort gewesen.

Die Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft sind noch nicht bewiesen. Allerdings wurden Dutzende von belastenden Dokumenten noch nicht ausgewertet. Die rechte Opposition in Italien reagierte wie zu erwarten mit Empörung. »Ein rotes Feuilleton« nannte Francesco Cossiga, Innenminister in den frühen siebziger Jahren, den Bericht. Giulio Andreotti, der solche Anschuldigen schon unzählige Male politisch überlebt hat, gab sich gelassen: »Ich weiß nichts davon. Ich habe niemals derartige Beziehung gehabt, weder geheime noch nicht geheime. Anscheinend stört es einige Leute, dass ich noch immer nicht tot bin.«