USA: Kandidaten in der Warteschleife

Die Fassade bröckelt

Das Florida-Fiasko. Die Verfassungskrise. Die Demokratie steht auf dem Spiel. Die Nation ist gespalten. So oder so ähnlich beschreibt die Mehrheit der Kommentatoren in den USA und im Ausland die unvorhergesehene Interimsphase bei der Wahl des nächsten Präsidenten. Völlig erschöpfte Mitarbeiter der Kandidaten Al Gore und George W. Bush bringen Presseerklärung um Presseerklärung in Umlauf, Heerscharen von Anwälten prüfen die Rechtslage, die Kandidaten simulieren fair play in einem Spiel, dessen Regeln noch geschrieben werden müssen. Es ist fast zu unterhaltsam, um wahr zu sein.

Vor dem vermeintlichen Tag der Entscheidung war über Monate hinweg jeder Moment durchorganisiert, jede Äußerung sorgfältig geprüft und redigiert worden. Der Tag kam und ging, die Entscheidung blieb aus. Im so entstandenen Organisationsvakuum bröckelt die demokratische Fassade; die tiefer liegenden Machtinteressen kommen zum Vorschein. Wenn sich Jeb Bush, Gouverneur von Florida und jüngerer Bruder von George W., offiziell aus dem Machtkampf zurückzieht und die Drecksarbeit seiner Innenministerin Katherine Harris überlässt, ist das genauso durchsichtig wie die Äußerung des demokratischen Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten, Joseph Lieberman, der gesagt hat: »Wir tun das, was jeder Amerikaner tut, der sich von der Regierung schlecht behandelt fühlt: Wir ziehen vor Gericht.« Katherine Harris war George W.

Bushs Wahlkampfmanagerin in Florida und bestand darauf, die Nachzählung selbst zu leiten. Die sieben Richter des obersten Gerichtshofes von Florida hingegen wurden allesamt von Gouverneuren der demokratischen Partei eingesetzt. Dementsprechend untersagte das Gericht Frau Harris, die Auszählung abzubrechen und setzte eine manuelle Zählung von 1,7 Millionen Stimmzetteln durch.

Bush und Gore sind damit beschäftigt, die öffentliche Meinung für sich einzunehmen, und bemühen sich darum, mit den hässlichen Details des post-elektoralen Scharmützels nicht in Verbindung gebracht zu werden. Unter diesem Aspekt ist Gores Angebot eines persönlichen, klärenden Gespräches mit Bush Ende vergangener Woche zu verstehen. Natürlich macht sich Gore keine Illusionen über die Wirkung eines solchen Gespräches, sollte es denn stattfinden. Es ging hier lediglich um die mediale Vermittlung des Eindruckes, die Klärung des Wahlausgangs nicht nur den Gerichten überlassen zu wollen.

Während in der politischen Klasse der USA Karrieren gemacht und zerstört werden und alle Beteiligten auf dem Zahnfleisch durch die Nachspielzeit kriechen, hat sich ihre Nervosität offenbar auf die Medien übertragen. »Die apokalyptische Schrillheit, erzeugt vom Washingtoner Establishment und verstärkt durch die ununterbrochene Fernsehberichterstattung, hat mit der Stimmung im Land nichts zu tun«, stellt der Kolumnist Frank Rich in der New York TImes fest. »Die talking heads waren geschockt, als Umfragen ergaben, dass die Amerikaner in der Lewinski-Affäre keinen Grund für einen Rücktritt Bill Clintons sahen. Jetzt sind sie darüber verblüfft, dass die umnachtete Bürgerschaft die Geduld hat, den Ausgang einer unentschiedenen Wahl abzuwarten.«

Das öffentliche Interesse an der Wahl ist jetzt zwar größer als zu Wahlkampfzeiten. Der Grund dafür liegt aber darin, dass dieses Nachspiel einen höheren Unterhaltungswert hat als das Ringen eines Gesichtslosen mit einem Idioten vor dem 7. November. Auch sollte man die Gelassenheit der meisten US-Bürger nicht mit einer Zustimmung zu einer erneuten Auszählung verwechseln, die sich angeblich aus einem fortgeschrittenen Demokratieverständnis speist. Den meisten Leuten ist es schlicht gleichgültig, wer Präsident wird und welche Sorte Dreck er am Stecken hat. Die Wahlbeteiligung vor zwei Wochen hat das gezeigt.