Generalstreik in Argentinien

Freitag ist Sonntag

Auf die Ankündigung eines neuen Sparpaketes reagierten die argentinischen Gewerkschaften in ungewohnter Einigkeit mit einem Generalstreik.

Am Freitag war Sonntag in Argentinien. Die Straßen der Städte überall im Land waren wie leergefegt, Fabriken, Schulen und Geschäfte blieben geschlossen. Mehr als 35 Millionen Menschen, allen voran die Lehrer, Transportarbeiter und öffentlichen Angestellten, beschlossen an diesem Tag auszuschlafen. Auch alle Beschäftigten des kriselnden industriellen Sektors ließen die Arbeit ruhen.

Anfang letzter Woche hatten die drei großen argentinischen Gewerkschaftsverbände, Confederacion General de Trabajo (CGT), Central de Trabajadores Argentinos (CTA) sowie die linke CGT-Abspaltung CCC, in ungewohnter Einstimmigkeit zu einem 36stündigen Generalstreik gegen die von der Regierung verkündeten erneuten Sparmaßnahmen aufgerufen. Zusammen verfügen CGT, CTA und CCC über sieben Millionen Mitglieder, die Hälfte aller abhängig Beschäftigten. Am Donnerstag, dem ersten Tag des Ausstandes, legten Hunderte von Straßenblockaden den Verkehr im ganzen Land lahm, die Hauptstadt Buenos Aires war mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht mehr zu erreichen.

Schon während der vergangenen Wochen war es immer wieder zu heftigen lokalen Widerstandsaktionen gegen die staatliche Wirtschaftspolitik gekommen. Vor allem in den Vororten von Buenos Aires und in den nördlichen Provinzen Argentiniens eskalierte die Unzufriedenheit über steigende Arbeitslosigkeit und Armut. In Tartagal, nahe der Grenze zu Bolivien, besetzten Hunderte Demonstranten Mitte November Polizeiwachen und zerstörten öffentliche Einrichtungen, nachdem ein Arbeitsloser, der an einer Straßenblockade teilgenommen hatte, erschossen worden war. Kein Tag verging, ohne dass irgendwo in Argentinien Arbeitslose und andere Marginalisierte Straßen besetzten.

Konkreter Auslöser für die Proteste ist ein rigides Sparpaket, das die sozialdemokratische Regierung unter Präsident Fernando de la Rua in diesem Monat beschlossen hat. In einem Treffen mit Unternehmern kündigte de la Rua den Rückzug des Staates aus der Altersversorgung, das Einfrieren der öffentlichen Ausgaben für mehrere Jahre, die Kürzung der Zuschüsse an Universitäten sowie die Öffnung des Gesundheitssektors für ausländisches Kapital an. Besonderen Unmut erregte, dass Tilgung und Zinsen der Auslandsschuld explizit von den Sparmaßnahmen ausgenommen wurden.

Eigentlicher Autor des Sparpaketes ist jedoch der Internationale Währungsfonds (IWF), der Argentinien einen Kredit von 20 Milliarden Dollar in Aussicht gestellt hat - allerdings unter der Bedingung, ausländischen Investoren ausreichend Sicherheit bieten zu können, was in den Augen der Währungshüter vor allem den Rückzug des Staates aus der Wirtschaft bedeutet. Auch das US-Finanzministerium forderte explizit die Umsetzung der Sparmaßnahmen, um die »Lage in Argentinien zu stabilisieren«.

Straßenblockaden sind in den letzten Wochen zu einer neuen Form des Protests gegen die sozialen Konsequenzen des Wirtschaftskurses der argentinischen Regierung avanciert. Gerade die Arbeiter, die in den achtziger Jahren in den Fabriken und Werkstätten protestierten, sind heute arbeitslos. Mit den Blockaden transportieren sie alle die gleiche Botschaft. »Wir sind im Gegensatz zu unseren Arbeitsplätzen nicht wegrationalisierbar und fordern zwei einfache Dinge: Arbeit und Essen.«

Warum die Blockadestrategie, nun mit der traditionellsten aller Protestformen, dem Generalstreik, kombiniert, in jüngster Zeit so häufig eingesetzt wird, ist einfach zu erklären; es genügt ein Blick in die offiziellen Sozialstatistiken. In den letzten zehn Monaten, seitdem die Mitte-Links-Regierung amtiert, ist die Arbeitslosenrate von knapp 14 auf über 15 Prozent angestiegen. Das bedeutet, dass 240 000 weitere Menschen ihren Job verloren haben. Insgesamt 7,5 Millionen Menschen befinden sich in einem prekären Beschäftigungsverhältnis oder sind arbeitslos. Die Armutsrate kletterte im letzten Jahr von 27 auf fast 30 Prozent. 14 Millionen Personen leben nach UN-Definition unter der Armutsgrenze, mehr als drei Millionen gelten als extrem arm. Innerhalb des urbanen Gürtels, der Buenos Aires umgibt, übersteigt die Armutsrate sogar 44 Prozent.

Angesichts dieser Zahlen prophezeit der Soziologe Ricardo Rouvier, dass »gewalttätige Ausschreitungen und die Zahl der Straßenblockaden noch zunehmen werden«. Umfragen zufolge hält die Hälfte der Bevölkerung eine soziale Explosion für »sehr wahrscheinlich« und den Streik für ein nötiges und legitimes Protestmittel. Die Popularität des Präsidenten de la Rua, der sich vor seiner Wahl zum Staatschef als Oppositionsführer und Bürgermeister der Hauptstadt großer Beliebtheit erfreute, ist auf dem absoluten Tiefpunkt angelangt.

Für die katastrophale soziale Situation ist natürlich nicht allein er verantwortlich. Sein Vorgänger, der konservative Carlos Menem, vererbte ihm ein Land, dass von zehn Jahren antisozialer und korrupter Wirtschaftspolitik geprägt ist. Claudio Lozano, Wirtschaftsexperte der CTA, wirft de la Rua jedoch die konsequente Fortsetzung der Menem-Politik vor: »Der Präsident hat die politischen Prinzipien von Menem, die Konzentration von Macht und Geld in den Händen weniger, übernommen. Jetzt sagt ihm die eigene Basis: Es reicht!«

Während die Gewerkschaftsverbände den Generalstreik als »vollen Erfolg« beurteilen, »der den Unmut großer Teile der argentinischen Bevölkerung ausdrückt«, wagte de la Rua zu behaupten, dass »die Mehrheit der Argentinier den Arbeitsausstand nicht wollte, ja sogar ablehnt«. Die zweitätige Lähmung des öffentlichen Lebens sei »mehr auf die Angst der Leute vor gewalttätigen Ausschreitungen zurückzuführen als auf eine Form des Protestes«, ist sich de la Rua sicher. Trotz eines enormen Aufgebotes an Sicherheitskräften blieben nennenswerte Zusammenstöße zwischen der Polizei und Blockierern allerdings aus.

Die Gewerkschaftsleitungen drohen nun mit neuen Protesten und fordern, dass die Regierung sich zu einem Dialog bereit erklärt. »Der Streik hat gezeigt, dass die wirtschaftspolitischen Maßnahmen de la Ruas auf keinerlei Zustimmung innerhalb der Bevölkerung stoßen«, stellte der CTA-Generalsekretär Victor de Genaro fest. Der Vorsitzende der radikalsten der am Streik beteiligten Gewerkschaften rief außerdem zur Bildung eines »Kabinetts der nationalen Einheit gegen Arbeitslosigkeit« auf, in dem die katholische Kirche, die Gewerkschaften und alle politischen Parteien vertreten sein sollten. Die ansonsten kompromissbereitere CGT drohte hingegen mit einem neuen Streik im Dezember, falls sich die Regierung nicht auf Verhandlungen einlasse. Sie bereitet außerdem Protestmärsche in den Provinzen des Landes sowie ein Plebiszit zu ihrem Vorschlag vor, eine Arbeitslosenversicherung von 380 Dollar monatlich für »jeden arbeitslosen Familienvorstand sowie eine zusätzliche Unterstützung für Kinder arbeitsloser Eltern« durchzusetzen.

Die von der Regierung ausgesendeten Signale weisen allerdings eher darauf hin, dass der Dialog beendet ist, noch bevor er begonnen hat. Während sie vor dem Streik versuchte, mit einzelnen Verhandlungsangeboten die Gewerkschaftsfront zu spalten, verkündete de la Rua wenige Stunden nach Beendigung des Generalstreiks, das Parlament werde in Kürze, gegen den Willen der Opposition, den Gesamthaushalt für das kommende Jahr verabschieden - und zwar einen Haushalt, der in jedem Fall die »versprochenen« Kürzungen der öffentlichen Ausgaben enthält.