Europas Interventionsarmee

Nato? Nato!

Im Frühjahr schien die Zukunft noch den Europäern zu gehören. Plötzlich war überall zu lesen, man werde es den Amerikanern künftig so richtig zeigen. »Guten Morgen, Europa!«, hieß Ende Mai eine Titelgeschichte des Spiegel: »Wohin man auch blickt, ist ein neues, europäisches Selbstbewusstsein erkennbar.« Eingeschlossen in die verbreitete Hoffnung auf eine große Zukunft Europas war auch die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP). Denn gerade in diesem Bereich waren große Fortschritte zu verzeichnen - trotz energischer Warnungen Washingtons, man werde eine Konkurrenz zur US-dominierten Nato nicht dulden.

Diese Warnungen sind verstummt, sie waren überflüssig. Mittlerweile zeichnet sich ab, dass die europäische Militärinitiative auf absehbare Zeit die US-Hegemonie nicht gefährden kann. Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen: Geschockt von der US-Überlegenheit im Krieg gegen Jugoslawien, verabredete man auf dem Kölner EU-Gipfel im Juni 1999, endlich ernst zu machen und eine eigene schlagkräftige Interventionsstreitmacht aufzustellen. Sofort begann man mit einer Neuordnung der europäischen Rüstungsindustrie, und bereits auf dem EU-Gipfel in Helsinki wurde Ende 1999 verkündet, man werde innerhalb von vier Jahren eine 60 000 Mann starke Einsatztruppe bilden.

Im vergangenen März traten in Brüssel provisorische militärische Gremien ihren Dienst an, außerdem wurde dort ein militärisches EU-Hauptquartier eingerichtet. Anfang der vergangenen Woche konkretisierten nun die Außen- und Verteidigungsminister der EU ihre Pläne zur Aufstellung der Interventionsarmee. Zum Gesamtpool von zunächst 115 000 Soldaten will die Bundeswehr rund 30 000 Mann und viel Kriegsgerät beisteuern.

Von Euphorie war nach diesem wegweisenden Beschluss nichts zu spüren, die Kommentatoren waren eher ernüchtert. Aus gutem Grund. Wenige Tage zuvor hatte EU-Kommissionspräsident Romano Prodi auf dem Europäischen Bankenkongress zwar die neuen strategischen Ansprüche Europas bekräftigt, aber auch hinzugefügt, um künftig die Rolle einer neuen Großmacht wahrzunehmen, müsse Europa mit einer Stimme sprechen.

Genau damit ist es aber zur Zeit nicht weit her. Zum einen sind die europäischen Regierungen nicht bereit bzw. politisch nicht in der Lage, jene unglaublichen Geldsummen zu erübrigen, die benötigt würden, um in der waffentechnischen Ausstattung gegenüber den USA ein wenig aufzuholen.

Zum anderen brechen unter den europäischen Eliten mit dem Näherrücken der Interventionsarmee alte und neue Differenzen auf. Diese sind teilweise mit den für den Dezember-Gipfel in Nizza geplanten Entscheidungen über die Erweiterung und die Reform der EU verbunden.

Frankreich würde die EU militärisch gerne ganz von den USA und der Nato abkoppeln. Die Briten zeigen nun, warum sie die Idee der EU-Armee von Anfang an energisch verfochten haben: Wer mitrüstet, darf auch mitreden. So betätigen sich die Briten in alter Treue als Sachwalter Washingtons und beteuern, die EU-Streitmacht sei selbstverständlich lediglich als Stärkung des europäischen Nato-Pfeilers zu betrachten. Die Deutschen geben sich flexibel, wollen aber auf jeden Fall mitkommandieren. Schweden, Österreich, Finnland und Irland dringen darauf, dass der EU-Militärapparat in die Zuständigkeit der Brüsseler Kommission gerückt wird - für London, Paris und Berlin kaum denkbar.

Zudem muss zwischen Nato und EU noch über die Behandlung militärischer Geheimunterlagen, die Grundregeln der Kooperation und die Nutzung von Nato-Einrichtungen verhandelt werden. Das kann dauern. Fest steht nur: Die EU wird auch künftig nicht in der Lage sein, ohne Rückgriff auf die Ressourcen der Nato, d.h. der USA, ordentliche Kriege zu führen. Zweitens: Ordentliche Kriege werden aber nötig sein. Das, wenigstens, wissen alle Beteiligten.