Alternative Lebensformen

Stille Trauer

Der Totenmonat November hält auch nicht mehr, was er einst versprach. Laue Luft wie im Frühling, Sonnenschein ohne Ende - wie soll sich da die für die Jahreszeit übliche Nachdenklichkeit einstellen? Wer denkt schon daran, sich von einer Brücke zu stürzen, wenn einen die Sonne munter und keck anblinzelt wie sonst nur im April? Die Kneipen haben noch Stühle und Tische draußen stehen und die Spielplätze sind genauso rege besucht wie die Flohmärkte.

Die Flohmärkte? Okay, letzten Sonntag war das anders. Da waren die Plätze, wo sonst Trödel verramscht wird, einsam und verwaist. Wer nach dem Katerfrühstück losgegangen war, um einen kaputten Eierkocher oder eine Mütze der Roten Armee zu erstehen, sah sich auf das nächste Wochenende vertröstet. Kein Schnäppchen in der Novembersonne.

Haben Sie schon mal etwas vom »Totensonntag« gehört? Sehen Sie, wir auch nicht. Wir haben ihn aber erlebt. Letztes Wochenende. Trödelmärkte sind an diesem Tag verboten, ebenso wie Sportveranstaltungen und Feste mit Live-Musik. Die BVG durfte nicht mal eine Blaskapelle zum zehnjährigen Jubiläum der Buslinie 100 aufspielen lassen. Denn der Totensonntag zählt wie der Volkstrauertag, an dem man eine Woche zuvor der gefallenen Wehrmachtssoldaten in besinnlicher Einkehr gedachte, zu den »stillen Feiertagen«. Und deswegen gilt die Feiertagsschutzverordnung.

So ist das in der Hauptstadt. Gibt es mal einen der wenigen Feiertage im Neuen Berlin, dann ist es gleich wieder so eine obskure Sache. Zum Beispiel waren am Totensonntag »alle öffentlich bemerkbaren Arbeiten« untersagt. Musste etwa der Pfarrer auf seine Predigt verzichten oder sie im stillen Kämmerchen halten? Und was war mit den unbemerkbaren Arbeiten?

Ein Sonntag voller Widersprüche. Tanzen zum Beispiel war erlaubt am Tag derer, die uns verlassen haben. Rockende Gebeine - allerdings nur, wenn sich die jeweilige Disco vorher eine Genehmigung dafür besorgt hatte. Autos durften auch fahren, trotz der vielen Verkehrstoten. Da blicke mal einer durch. Das sind die Leerstellen unseres Systems. Es gab Zeiten, da herrschte an diesem Tag ein allgemeines Tanzverbot und die Radios spielten nur Trauermusik. Früher war eben alles besser.

Aber immerhin bleibt der November der Monat der Erinnerung. An irgendwen oder irgendwas wird immer gedacht: an Reichspogromnacht und Mauerfall, an die in Russland Gebliebenen und am Ende an alle, die mal gestorben sind. Der November ist ein Trauermarathon.

Schade nur, dass der 3. Oktober keine Chance hat, auf einen Totensonntag zu fallen. Ein Umzug der 16 Bundesländer durchs Brandenburger Tor ohne Blasmusik, sozusagen als Schweige- und Trauermarsch - da träumste von, Novemberherz.