Vorbereitungen auf den EU-Gipfel in Nizza

Werben um den Osten

Während die deutsche Regierung die EU-Erweiterung zur obersten Priorität erklärt, glaubt Polen nicht mehr an einen schnellen Beitritt.

Seit Wochen schon jettet Bundeskanzler Gerhard Schröder hektisch durch Europa. Hier ein Frühstück mit EU-Kommissionspräsident Romano Prodi, dort ein Treffen mit dem luxemburgischen Premierminister Jean-Claude Juncker, da ein Abendessen mit dem belgischen Premier Pierre Verhofstadt. Bereits vorletzte Woche traf sich Schröder mit den dänischen und niederländischen Ministerpräsidenten sowie mit dem britischen Premierminister Tony Blair.

Schröder will mit seiner Jet-Diplomatie für die geplante Ost-Erweiterung der Union und die damit verbundenen Veränderungen der Entscheidungsstrukturen werben. Die Bundesregierung werde alles unternehmen, damit die institutionellen Reformen beim EU-Gipfeltreffen in Nizza Anfang Dezember erfolgreich abgeschlossen werden können, betonte Schröder vergangene Woche beim Jahresempfang des Diplomatischen Korps in Berlin.

Die Werbetour hat der Bundeskanzler auch dringend nötig. Seine Begeisterung für die Ost-Erweiterung wird nicht von jedermann geteilt. Vor allem Frankreich und Großbritannien äußern sich skeptisch. So hält der französische Außenminister die Nennung von Beitrittsterminen eine »deutsche Hoffnungsäußerung«. Man solle lieber »ernsthaft« verhandeln, anstatt »willkürlich« Terminpläne aufzustellen.

Um die Haltung der osteuropäischen Beitrittskandidaten muss sich Schröder hingegen keine Sorgen machen, sie unterstützen die deutschen Bemühungen vehement. Die so genannte Luxemburg-Gruppe - Polen, Ungarn, Tschechien, Estland, Slowenien und Zypern - hat erst kürzlich gefordert, dass die EU-Mitglieder endlich »ihre Hausaufgaben machen« sollten. Denn nur eine Reform der EU-Institutionen ermögliche die Erweiterung.

Besonders harsche Kritik übte dabei der polnische Staatspräsident Aleksander Kwasniewski in einem Interview mit der Welt am Sonntag. Während Polen für die Aufnahme in die EU bestens gerüstet sei, zeigten sich die EU-Regierungschefs unfähig, sich aufs Mehrheitsprinzip im Ministerrat zu einigen. Er glaube »immer weniger« an einen Erfolg des Gipfels in Nizza. Auch einen Beitritt seines Landes bis 2003 halte er für immer weniger wahrscheinlich. »Als die Finnen die Ratspräsidentschaft innehatten«, klagt Kwasniewski, »hieß es, die Portugiesen würden das Problem lösen. Die Portugiesen haben das Problem an die Franzosen weitergereicht. Schieben die Franzosen nun in Nizza die Entscheidung an die Schweden weiter, ist für uns klar, dass die EU es nicht schafft, große Probleme zu lösen.«

Das selbstbewusste Auftreten des polnischen Staatspräsidenten beruht vor allem auf der zunehmenden ökonomischen Bedeutung der osteuropäischen Länder für die Union. Daher spricht auch die Bundesregierung mittlerweile nur noch ungern über die »Defizite« Polens. Schließlich weiß sie genau, dass eine Erweiterung ohne den östlichen Nachbarn sinnlos wäre. Das Land hat nicht nur den mit Abstand größten Binnenmarkt, sondern ist auch geopolitisch der interessanteste Beitrittskandidat.

Kein Wunder also, dass Bundeskanzler Schröder vergangene Woche in einem ZDF-Interview die potenziellen Mitgliedsstaaten als Zukunftsmärkte für Deutschland bezeichnete. »Unsere Waren, die hier produziert werden, werden dort verkauft und bringen uns mehr an Arbeitsmöglichkeiten«, erklärte er. Die Erweiterung sei daher im »nationalen Interesse«.

Tatsächlich war der Handel Deutschlands mit den Beitrittsländern 1998 bereits 70 Milliarden Euro wert, heute hat er eine größere Bedeutung als der wirtschaftliche Austausch mit den USA und Kanada. Zwischen 1997 und 1998 ist der deutsche Export nach Mittel- und Osteuropa um 19 Prozent gestiegen - dreimal soviel wie die Ausfuhren in die restliche Welt.

Zudem können die Befürchtungen über negative Auswirkungen der Erweiterung relativiert werden. Dies trifft auch für die vermeintlichen negativen Konsequenzen in den neuen Bundesländern zu. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin hat beispielsweise in einer aktuellen Studie seine frühere Einschätzung des Wanderungspotenzials aus dem Osten deutlich nach unten korrigiert. Von 680 000 Arbeitsmigranten, die pro Jahr aus den Beitrittsländern nach Deutschland kommen könnten, ist jetzt nicht mehr die Rede.

Mit solchen Prognosen lassen sich jedoch die Europakritiker im eigenen Land kaum beruhigen. Das Nachrichtenmagazin Focus behauptet in seiner neuesten Ausgabe, dass die gravierenden Probleme Polens in der Verwaltung, mit dem Strukturwandel und im Kampf gegen Korruption in dem jüngsten EU-Fortschrittsbericht beschönigt worden seien. Polen schneide bei der Arbeitslosigkeit und bei der Zahlungsbilanz doppelt so schlecht ab wie Ungarn.

Das Nachrichtenmagazin beruft sich dabei auf »eine vertrauliche Aktennotiz eines hohen Beamten« aus dem Haus des EU-Kommissars für Erweiterung, Günter Verheugen. Die rasche Verwandlung vom Sorgenkind zum Musterschüler sei »mit Hilfe einer politisch redigierten Endfassung« vollzogen worden, wie Focus ermittelt haben will. Doch die angeblich manipulierten Zahlen lassen sich in den regelmäßigen Fortschrittsberichten, die die EU über ihre Beitrittskandidaten anfertigt, nachlesen. Und sie werden nicht nur von deutschen Experten geschrieben.

Wahrscheinlicher ist es, dass der Focus die »Enthüllungsstory« dazu benutzt, um die EU-skeptische Position der Christdemokraten zu unterstützen. Insbesondere die CSU fordert verhement, den Beitrittstermin zu verschieben. Der bayerische Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten, Reinhold Bocklet (CSU), etwa ist der Ansicht, dass die Erweiterung »dramatisch unterfinanziert« sei. Sie werde nur den »Verteilungskampf in Europa« verschärfen. Daher müsse man zuerst eine »gerechte Lastenverteilung innerhalb der 15 Mitgliedsstaaten herstellen«. Bocklet findet auch einen Vorschlag Verheugens diskutabel. Dieser hatte im September für Aufsehen gesorgt, als er ein Plebiszit über die Erweiterung vorgeschlagen hatte.

Sein Ansehen in den Beitrittsländern konnte er dadurch nicht sonderlich verbessern. Der polnische Außenminister Bartoszewski wertete den Vorstoß als Versuch, den Beitrittstermin hinauszuschieben. Und auch der deutsche Außenminister Joseph Fischer hielt es für »keine gute Idee«, die deutsche Bevölkerung zu diesem Thema zu befragen.

Der Kommissar habe einen »Tabubruch aus Notwehr« begangen, orakelte damals Die Welt, um endlich eine Debatte um die Erweiterung zu initiieren. Europa leide unter einem Akzeptanzproblem. Die Einigung und die Erweiterung seien vorwiegend Projekte der politischen Klasse und der wirtschaftlichen Elite. In der Bevölkerung hingegen wachse der Unmut.

Dass ihre Wähler nicht tatenlos zusehen möchten, wie die Grenze nach Osten verschoben wird, weiß auch die Bundesregierung. Seit einiger Zeit lässt sie daher von Forschungsinstituten die Meinungen an der Ostgrenze erkunden. Selbst der Spiegel hält die Ergebnisse für »erschreckend« und glaubt, dass die »Regenten sie geheim halten« würden. Vor allem in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit schlage die Abneigung gegen die Ost-Erweiterung »mancherorts in Aggressivität« um.