Auf den Straßen von Nizza

Beim EU-Gipfel in Nizza haben sich die europäischen Regierungschefs in letzter Minute doch noch geeinigt. Die Gegenmobilisierung war auf der Straße stark, inhaltlich aber schwach.

Der französische Staatspräsident Jacques Chirac hustet, einige andere Herren - unter ihnen Premierminister Lionel Jospin - reiben sich die geröteten Augen. Zum Auftakt des EU-Gipfels im Konferenzzentrum Acropolis in Nizza sind die Schleimhäute der versammelten Staats- und Regierungschefs ebenso gereizt wie die Stimmung. Die Lüftungsanlage hat soeben tränengashaltige Luft von draußen angesaugt. An diesem Morgen ziehen Gasschwaden durch die Straßen in der Umgebung der Place Garibaldi und des Acropolis-Zentrums, denn die Polizei geht hart gegen die zahlreichen Demonstranten vor und vertreibt sie mit Hilfe von Tränen- und Reizgasgranaten. Und ausnahmsweise spüren auch jene, deren Politik die Ursache der Proteste ist, selbst etwas von den Folgen der Auseinandersetzungen.

Doch Konflikte gibt es nicht nur auf den Straßen, auch innerhalb des Kongresszentrums wird heftig gestritten. Die Staats- und Regierungschefs tagen dort hinter verschlossenen Türen. 3 000 Pressevertreter sind in einem anderen Gebäude versammelt und auf die Informationen angewiesen, die ihnen der EU-Presseseprecher alle 20 Minuten übermittelt.

Nicht weniger als drei Entwürfe für die künftige Neugewichtung der Stimmenanteile der Einzelstaaten im künftigen EU-Ministerrat legte die französische Ratspräsidentschaft nacheinander vor. Die deutsche und die französische Regierung waren dabei aneinander geraten. Insbesondere der Stimmenanteil Polens war umstritten. Während Spanien zunächst 28 Stimmen zugesprochen wurden, sollte Polen nur 26 erhalten. Nach heftigen Auseinandersetzungen wurde dem größten osteuropäischen Beitrittskandidanten dieselbe Anzahl wie Spanien gewährt.

Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien haben künftig je 29 Stimmen. Die Niederlande bekamen 13, Belgien zwölf und Luxemburg vier Stimmen zugeteilt. Die künftige Stimmengewichtung im EU-Ministerrat sei das »heikelste Problem auf dem Gipfel in Nizza« gewesen, erklärte EU-Ratspräsident Jacques Chirac, nachdem am frühen Montagmorgen eine Einigung erzielt worden war.

»Nun ist die EU aufnahmefähig für neue Mitglieder«, freute sich der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder am Ende. Die Verhandlungen hatten sich Schröder zufolge zuletzt an der Frage der künftigen Stimmengewichtung festgefahren. Deutschland habe zwar am Prinzip der Bevölkerungsstärke festgehalten, jedoch darauf verzichtet, einen Konflikt mit Frankreich auszufechten.

Die beiden bedeutendsten Staaten in der EU traten schließlich mit unterschiedlichen Konzeptionen an. Berlin, das die Beziehungen zu zahlreichen deutschfreundlichen Regierungen unter den kleineren EU-Mitgliedern und vor allem unter den künftigen Beitrittsstaaten in Osteuropa bewahren wollte, war bereits im Vorfeld von einer gemeinsamen Konzeption abgerückt. Diese sah vor, dass die kleineren EU-Staaten künftig nicht mehr ständig mit einem eigenen Vertreter in der EU-Kommission vertreten sein sollen. Stattdessen favorisierte Berlin eine Stärkung der Kommissionspräsidentschaft, die einer Erleichterung und Straffung der Entscheidungsfindung dienen soll. Die endgültige Zahl der Kommissare wird jedoch erst festgelegt, wenn die Union auf 27 Mitglieder angewachsen ist. Dann soll ein Rotationssystem eingeführt werden, und nicht mehr jedes Land wäre jederzeit in der EU-Kommission vertreten. Die Aufnahme der ersten Beitrittskandidanten erfolgt ab 2004.

New Model Army

Zu Beginn des Gipfels wurde die Grundrechts-Charta der EU feierlich proklamiert, die in einer Kommission unterm Vorsitz des deutschen Ex-Bundespräsidenten Roman Herzog ausgearbeitet worden war. Die Charta hat viel Kritik auf sich gezogen, da sie vor allem bei den sozialen Rechten deutlich hinter viele einzelstaatliche Verfassungen zurückfällt. Ihr juristischer Wert ist umstritten: Einige sagen, sie habe keinerlei verbindlichen Charakter, sondern lediglich den Wert einer symbolischen Proklamation. Andere sehen in ihr die Garantie eines rechtsstaatlichen Minimalstandards, der nicht so sehr von den aktuellen EU-Mitgliedern als von den derzeitigen Beitrittsanwärtern erfüllt werden muss.

Der Gipfel beschloss die Bereitstellung von 100 000 Soldaten für eine künftige »Europäische Verteidigungskraft« und die Einrichtung europäischer Befehlsstrukturen. In der heiklen Frage der Beziehung der künftigen EU-Streitmacht zur US-dominierten Nato mussten die Verteidiger eigenständiger europäischer Ambitionen jedoch einen Rückzieher machen. Großbritannien will wegen seiner traditionell engen Beziehungen zu den USA keine militärpolitische Distanzierung dulden.

Enthielt der ursprüngliche Text noch die explizite Formulierung einer »Unabhängigkeit« der »EU-Verteidigungskraft« von der Nato, so ist nun jeder Bezug auf eine »Autonomie« gegenüber den USA aus der Endfassung verschwunden. Frankreichs Präsident Chirac erklärte am Freitag, im Widerspruch zu früheren Aussagen, die Formulierung der »Unabhängigkeit« für »gegenstands- und sinnlos«. Der am Freitag verabschiedete Text stellt stattdessen fest, dass »eine europäische Verteidigungsidentität die Nato« stärkt.

Nizza und Seattle

Das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs hatte am vergangenen Mittwoch einen fulminanten Auftakt erlebt, als rund 75000 Demonstranten durch die Straßen von Nizza zogen. Aufgerufen hatte der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), um für ein »soziales Europa« und gegen eine neoliberal dominierte Politik zu protestieren. Gekommen war vor allem die CGT. Der bis vor kurzem KP-nahe französische Gewerkschaftsbund hatte mit großem Aufwand mobilisiert und stellte allein über die Hälfte der Teilnehmer. Dicht hinter der CGT marschierte der sozialdemokratische Gewerkschaftsbund CFDT, der ebenfalls zahlreiche Mitglieder auf die Straße brachte. Hingegen zeigte die gemäßigte Force Ouvrière (FO) kaum sichtbare Präsenz, was den EGB nachdenklich stimmen müsste. Galt doch die FO lange Zeit als Stütze des EGB in Frankreich, während die als »kommunistisch« verrufene CGT erst im März 1999 in den europäischen Gewerkschaftsbund aufgenommen worden war.

Der EGB trat erstmals mit einer europaweiten Mobilisierung in Erscheinung, und es war zugleich die bislang größte Demonstration aus Anlass eines EU-Gipfels. Der Deutsche Gewerkschaftsbund, mit neun Millionen Mitgliedern größte EGB-Organisation, ging mit seinen etwa 100 anwesenden Mitgliedern gänzlich unter.

Neben den französischen Gewerkschaftsbünden waren auch italienische und spanische Gewerkschaften nach Nizza gereist. Zahlreich vertreten waren aber auch Basisorganisationen und Initiativen wie die französischen Globalisierungskritiker von Attac, oder die Cobas, linke Basisgewerkschaften aus Italien.

Die Atmosphäre änderte sich am folgenden Tag. Waren die großen Gewerkschaftsbünde mit ihren Buskolonnen bereits am Mittwoch wieder abgereist, blieben linksradikale Organisationen, Basisinitiativen, Anarchosyndikalisten und linksalternative Aktivisten in der Stadt. In der Nacht auf Donnerstag versammelten sie sich zunächst in einer Turnhalle im östlichen Stadtteil Riquier, um einen Gegengipfel abzuhalten. Am Morgen sollten die Zugänge zum Kongresszentrum blockiert werden.

Vorbild dafür waren die Aktionen anlässlich der Tagung der Welthandelsorganisation (WTO) im Dezember 1999 in Seattle. Damals war den Teilnehmern der Zugang zum Tagungsort mehrere Stunden lang verwehrt worden. Aus zwei Gründen konnte eine ähnliche Blockade in Nizza nicht wiederholt werden: Während in Seattle die Großdemonstration und die Blockade-Aktionen am selben Tag stattfanden, reiste in Nizza die Mehrheit der Demo-Teilnehmer am Mittwochabend wieder ab. Zudem wurden etwa 1 400 italienischen Angehörigen der »Unsichtbaren« - einer Gruppe, die seit zwei Jahren mit radikalen Aktionsformen von sich reden macht - die Einreise verweigert. Nicht zum ersten Mal erwies sich die Grenze an dieser Stelle als undurchlässig: Bereits Ende März 1999 waren 3000 Italiener, die in Paris an einer europäischen Demonstration für die Rechte der Immigranten teilnehmen wollten, an der Grenze in Ventimiglia festgehalten worden.

Gereizt vom harten Vorgehen der Polizei, griffen überwiegend spanische und baskische Demonstranten zu Baumaterial und demolierten eine Filiale der französischen Bank BNP, die in Flammen aufging. Insgesamt kam es im Laufe des Donnerstags zu etwa 40 Festnahmen. Zwei junge Basken wurden noch am selben Tag im Schnellverfahren dem Richter vorgeführt. Am späten Vormittag formierte sich eine weiterere Demo, die quer durch die Ostbezirke zum Ort des Gegengipfels zog.

Dort, in der Salle Leyrite, geriet die Alternativ-Veranstaltung allerdings zum jämmerlichen Flop. Akustische Probleme und langwierige Übersetzungen, Müdigkeit und vermutlich auch das theoretische Desinteresse eines Teils der jüngeren Teilnehmer ließen die Debatten in einem organisatorischen Chaos untergehen. Aufmerksamkeit fand lediglich die Diskussion mit der Attac-Vizepräsidentin Susanne George und mit Francois Dufour, dem stellvertretenden Vorsitzenden der linksalternativen Bauerngewerkschaft Confédération paysanne.

Für die inhaltliche Schwäche des Gegengipfels waren jedoch auch die Bedingungen in Nizza verantwortlich. Die Stadt ist von einem arroganten, reichen und rassistischen Klima geprägt und wird von Jacques Peyrat regiert, einem ehemaligen Kameraden Jean-Marie Le Pens aus den Zeiten der Kolonialkriege. Peyrat verließ kurz vor den letzten Kommunalwahlen 1995 den Front National (FN) und trat ein Jahr später dem neogaullistischen RPR bei.

Charmeoffensive der EU-Institutionen

Eine Diskussion wäre allerdings angesichts der unklaren inhaltlichen Ausrichtung der Gipfelgegner dringend nötig gewesen. Zwischen »mehr und zugleich ein sozialeres Europa« auf der einen Seite und »Raus aus der EU, Rückkehr zum nationalstaatlichen Sozialkompromiss« auf der anderen Seite blieb viel Raum, der jedoch nicht durch inhaltliche Klärungen ausgefüllt werden konnte.

Die Gewerkschafter vertraten eine klare EU-freundliche Position und forderten, die in Nizza verabschiedete Grundrechts-Charta der EU in die bestehenden europäischen Verträge zu integrieren. Dieselbe Charta wurde hingegen von zahlreichen Demonstranten als »sozialer Rückschritt« angesehen. Die französische KP sprach sich in Flugblättern für eine »progressive Umorientierung der europäischen Konstruktion« aus. Einige KP-Splittergruppen forderten wiederum den sofortigen Austritt aus der EU und die »Wiederherstellung des souveränen Nationalstaats und der Republik«. Für die meisten Demonstranten blieb jedoch unklar, ob sie sich nun grundsätzlich gegen die neoliberale EU wenden oder für eine stärkere europäische Verflechtung und Harmonisierung aussprechen sollten.

Zur inhaltlichen Verwirrung trug zusätzlich noch die Kommunikationsoffensive der EU und der europäischen Sozialdemokraten bei. Schon zu Beginn des Gipfels hatten die europäischen sozialdemokratischen Parteien, die sich unter dem Vorsitz von Rudolf Scharping in Nizza trafen, öffentlich verkündet, dass die überwiegende Mehrheit der Protestierenden ihren Parteien gar nicht so fern stehe. Es fehle nur an der richtigen Kommunikation. Die Demonstrationen seien grundsätzlich ein erfreuliches Signal, da sie das erwachte Interesse an Europa ausdrückten.

Zudem hatte Frankreichs sozialistischer EU-Kommissar für Außenhandelsfragen, Pascal Lamy, in mehreren Interviews seinen ganzen Charme entfaltet und versichert, er begrüße die Proteste. Sie seien ein Beweis für ein neues europäisches Verständnis, dass sich nun »im Wechselspiel, im Dialog zwischen EU-Institutionen und Zivilgesellschaft« herausbilde. Schließlich gelte es doch, gerade im Sinne der Demonstranten, der EU »ein Gewicht in der Welt« zu verleihen, um so eine Alternative zur US-Politik aufbauen zu können. Zwischen dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs und dem Gegengipfel bestünden, so Lamy, keine Gegensätze. »Ich nehme an beiden teil«, erklärte er in Le Monde.