Bis dass der Tod entscheidet

Die deutsche Wirtschaft nutzt jeden Anlass, die zugesagten Entschädigungen für ehemalige Zwangsarbeiter zurückzuhalten.

Autobahn, Kindergarten, Lied, Zeitgeist - es gibt deutsche Begriffe, die in den USA nicht übersetzt werden, weil sie etwas bezeichnen, das es in den Vereinigten Staaten nicht gibt oder wie im Fall des Kindergartens erst gibt, seitdem man die Besonderheiten der Deutschen gründlich studieren darf.

Zu diesen Begriffen gehört das Wort Rechtssicherheit nicht. Noch nicht. Denn wie das Wort Blitzkrieg müsste Rechtssicherheit eigentlich im deutschen Original verwendet werden. Meint doch das amerikanische certainty about one's legal position etwas ganz anderes als sein deutsches Äquivalent. Wird dort ein formaler Rahmen gesetzt, der Staat und Bürger, Wirtschaft und Gesellschaft juristisch abgrenzt und allen eine mehr oder minder gleiche Stellung im Recht verschafft, bedeutet das deutsche Wort Rechtssicherheit kurz und knapp: »Wir zahlen nicht«.

Zu diesem Schluss muss kommen, wer sich die Reaktionen in Deutschland nach der Vertagung eines Prozesses in New York ansieht. Anstatt wie erwartet eine Sammelklage gegen deutsche Banken abzuweisen, kam letzte Woche die Richterin Shirley Kram zu dem Schluss, dass noch nichts entschieden werden könne. Schließlich habe die deutsche Industrie ihren vor mehr als einem Jahr für die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern zugesagten Anteil von fünf Milliarden Mark noch lange nicht beisammen. Der Prozess wurde vertagt.

Fehlende »Rechtssicherheit« machen seither die Spitzen der deutschen Wirtschaft dafür verantwortlich, dass mit der Auszahlung von Geldern, die noch gar nicht vorhanden sind, weiterhin gewartet werden müsse. Die Schuld daran gab Wolfgang Gibowski, der Sprecher der Stiftungsinitiative, in einem Interview bei n-tv der New Yorker Richterin. DaimlerChrysler-Finanzvorstand Manfred Gentz machte gegenüber den Nachrichtenagenturen ebenfalls Shirley Kram für weitere Verzögerungen bei den Auszahlungen verantwortlich. Dass er bereits vor der Vertagung des Prozesses angedeutet hatte, die vorhandenen Gelder nicht bereitstellen zu wollen, »da auch nach der Abweisung der Sammelklage noch Einzelklagen und Berufungsverfahren anhängig seien«, macht die Absicht der deutschen Wirtschaft deutlich, sich um Kleinigkeiten wie Zwangsarbeiter, Prozesse und politische Entscheidungen am liebsten gar nicht zu kümmern.

Auch die Aussage eines Mitglieds einer US-Kommission zur Untersuchung von Versicherungsansprüchen aus der NS-Zeit, man könne eventuell bereits abgewiesene Sammelklagen wieder aufnehmen, führte zu Panikreaktionen und wüsten Schuldzuweisungen an die Amerikaner von Seiten des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft.

Ginge es allein nach Leuten wie Gentz, Gibowski und Co., so würden die ehemaligen NS-Zwangsarbeiter erst dann etwas erhalten, wenn hundertprozentige Rechtssicherheit bestünde; da es die aber nicht geben kann, würden die Zwangsarbeiter eben nichts bekommen. Der deutsche Bundestag, der eigentlich Mitte Februar nach den Vorgaben des Stiftungsgesetzes vom Sommer letzten Jahres die Rechtssicherheit förmlich festellen sollte, würde sich erst dann mit dem Thema befassen, wenn auch die letzte Einzelklage in den USA in der letzten Instanz abgewiesen worden wäre.

Sollte dies geschehen, könnten in fünf, zehn, 20 oder 500 Jahren die ersten Gelder ausgezahlt werden. Dass dann keiner der Anspruchsberechtigten mehr leben würde, kann Gentz und Gibowski egal sein. In Tschechien sind allein im vergangenen Jahr 7 000 NS-Opfer gestorben, in Polen, Russland und anderen osteuropäischen Staaten sind es noch mehr.

Von den derzeit 650 000 Antragstellern sterben jährlich weit mehr als zehn Prozent. Weitere 350 000 Anspruchsberechtigte haben wegen hoher bürokratischer Hürden und mangelnder deutscher Kooperation noch keinen Antrag stellen können. Und mehrere Hunderttausend NS-Arbeitssklaven, die in Kleinfirmen oder in der Landwirtschaft ausgebeutet wurden, sind explizit von der Vereinbarung ausgeschlossen.

Das Insistieren auf Rechtssicherheit bedeutet aber auch, bei einem durchaus möglichen Erfolg eines Klägers das gesamte Vertragswerk für ungültig erklären zu können. Sollte eine Einzel- oder Sammelklage in den USA in letzter Instanz durchkommen, dann gäbe es eben gar keine Entschädigungszahlungen. Dieses Vorgehen von Vertretern der deutschen Wirtschaft ist es, das es vielen deutschen Politikern momentan so leicht macht, sich als sympathische Fürsprecher der Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern zu präsentieren.

»Denen fällt auch immer etwas Neues ein«, kommentierte etwa der CDU-Rechtsexperte Wolfgang Bosbach im Mannheimer Morgen einen der vielen Verweise Gibowskis auf die »fehlende Rechtssicherheit«. Der SPD-Abgeordnete Bernd Reuter will sich sogar für gesetzliche Zwangsmaßnahmen gegen zahlungsunwillige Firmen einsetzen, um endlich die noch fehlenden 1,4 Milliarden Mark einzutreiben.

Und ganz vorne weg springt Volker Beck. Der Bündnisgrüne versucht bereits seit Monaten, die rot-grüne Schlussstrich-Strategie gegen retardierende Momente von Teilen der deutschen Wirtschaft durchzusetzen. Neben Otto Graf Lambsdorff und dem Vorsitzenden des Stiftungskuratoriums Dieter Kastrup ist es vor allem Beck, der sich dafür einsetzt, spätestens im März die Rechtssicherheit durch einen Entschluss des Bundestages feststellen zu lassen.

Ein verschwindend geringer Teil der ehemaligen NS-Zwangsarbeiter würde dann mit einem Bruchteil dessen, was ihm zusteht, entschädigt, große deutsche Firmen könnten den Anschluss zum Weltmarkt halten und Deutschland hätte mehr als 55 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges endlich seine Ruhe.

Eine Ruhe, die billig erkauft wäre. Mehr als 180 Milliarden Mark, die während des NS aus den Zwangsarbeitern gepresst wurden, hatte der Berliner Ökonom Thomas Kuczynski 1998 in einer Studie für die Bremer Stiftung für Sozialgeschichte errechnet. 14 bis 15 Millionen KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und Zivilpersonen hätten unter Zwang rund 64 Milliarden Arbeitsstunden im Deutschen Reich ableisten müssen.

Die Verzinsung der seit mehr als 50 Jahren vorenthaltenen Löhne hatte Kuczynski ebenso wenig berücksichtigt wie die Löhne für die zahllosen Zwangsarbeiter, die von den Nazis gezwungen wurden, in den besetzten Gebieten für das Deutsche Reich zu arbeiten.

»Es kann heute nicht darum gehen, allein für die Tatsache der Zwangsarbeit Leistungen zu gewähren. Rechtsansprüche gegen deutsche Unternehmen im Hinblick auf Zwangsarbeit oder Schäden wegen der Verfolgung während der NS-Zeit bestehen nicht«, heißt es hingegen salopp in der Präambel der Stiftungsinitiative Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. Wenn überhaupt entschädigt werden sollte, dann allein dank einer »moralischen Verantwortung« der deutschen Unternehmen, die dafür natürlich »Rechtssicherheit« brauchen.

Die aber wird ihnen bisher nur in Deutschland gewährt. Das Koblenzer Oberlandesgericht entschied vergangene Woche kurz und knapp, dass bisher nicht geltend gemachte Ansprüche von ehemaligen Zwangsarbeitern verjährt seien. Auch für sie müssten die üblichen Fristen des deutschen Zivilrechts gelten, also zwei bis drei Jahre. Wer es also immer noch nicht geschafft hat, sich von denen, die Zwangsarbeiter beschäftigt haben und bis heute nichts davon wissen wollen, eine Arbeitsbescheinigung zu beschaffen, wird künftig vor deutschen Zivilgerichten nichts zu erwarten haben.

Und so bleibt den Anspruchsberechtigten nichts weiter als die Hoffnung, dass sich die Schlussstrich-Fraktion um Volker Beck sobald wie möglich durchsetzt. Die Chancen sind ebenso gut wie die, dass der deutsche Begriff Rechtssicherheit künftig im Amerikanischen nur noch im Original verwendet wird. Ganz so, wie es beim schönen deutschen Wort Leitmotiv schon heute ist.

Wem das allerdings zuviel mit Realpolitik zu tun hat - auch so ein Wort, dass in den USA nicht übersetzt wird - und wer trotzdem will, dass die NS-Zwangsarbeiter materiell entschädigt werden, dem bleibt nur das Vertrauen in Shirley Kram. Und wenn sie es nicht richtet, vielleicht schaffen es ja ihre Kolleginnen und Kollegen.