Bericht über die Gefängnisrevolte

Räumung um jeden Preis

Im Dezember 2000 starben in der Türkei 29 Häftlinge beim Sturm auf die Gefängnisse. Berichte, die einer Zeitung zugespielt wurden, widerlegen nun die staatliche Version der Ereignisse.

Rauch steigt über den Gefängnissen Bayrampasa und Ümraniye in Istanbul und über der Haftanstalt Çanakkale auf. Es ist der 19. Dezember 2000, 4:30 Uhr. Spezialeinheiten stürmen die Gefängnisse, wo politische Häftlinge einen Hungerstreik gegen die Haftbedingungen und die Einführung von Sicherheitstrakten mit speziellen Isolationsvorkehrungen begonnen haben (Jungle World, 2/01). »Rückkehr in das Leben« nannten die Sicherheitskräfte zynischerweise die neunstündige Aktion. Bilanz am nächsten Mittag: 29 tote Häftlinge, zwei tote Soldaten.

Der Angriff führte zu zahlreichen Protesten aus dem In- und Ausland, die offiziellen Stellen überschlugen sich daraufhin mit entschuldigenden Erklärungen. In den Gefängnissen Ümraniye und Bayrampasa sollen sich die Häftlinge aus Protest selbst verbrannt haben, außerdem sei auf die Sicherheitskräfte geschossen worden, erklärte Justizminister Sami Türk. Der inzwischen zurückgetretene Innenminister Sadettin Tantan behauptete, dass die Gefangenen sich auf Befehl ihrer Organisationen selbst verbrannt hätten.

In der vergangenen Woche erschien die liberale türkische Tageszeitung Radikal mit der Schlagzeile »Die Realitäten hinter dem Märchen von der Operation Rückkehr in das Leben«. Der Zeitung waren bislang geheime Berichte über die gerichtsmedizinischen Ergebnisse der Autopsien der Leichen sowie Operationsprotokolle der Spezialeinheiten zugekommen. Darin wird nachgewiesen, dass es sich um eine kühl kalkulierte Aktion handelte, die nur das Ziel verfolgte, die Gefängnisse um jeden Preis zu räumen.

Augenzeugin und Opfer dieser Schreckensnacht war die 24jährige Ebru Dinçer. Sie war nach der Aktion in allen Fernsehkanälen zu sehen: ein bis zur Unkenntlichkeit versengtes Gesicht mit einem schwarzen kahlen Schädel, der Körper wegen der Verbrennungen lose in ein Tuch gehüllt. Die Jandarma - paramilitärische Polizeieinheiten - hatten sie nach jener Nacht ins Krankenhaus geführt, sie schrie immer nur schrill »sie haben sie einfach verbrannt!« Schnell zog man sie von den Fernsehkameras weg. Sechs ihrer Mitgefangenen hatten den Angriff auf die Großraumzelle C 1 im Istanbuler Gefängnis Bayrampasa nicht überlebt.

In der Todesnacht wachte Ebru Dinçer auf, als die Spezialeinheiten Löcher in die Wände der Zelle bohrten, obwohl es keine Barrikade an der Zellentür gab. Die Polizei warf Reizgasgranaten durch die Öffnungen, gleichzeitig wurde durch das Dach geschossen. Der beißende Rauch war so dicht, dass die Frauen glaubten zu ersticken. Alle gerieten in Panik, einige hatten Schussverletzungen abbekommen. Doch als die Gefangenen versuchten, die Tür zu erreichen, wurde plötzlich der Eingang in Brand gesteckt. Alle fühlten eine sengende Hitze, als sei plötzlich die Luft in Brand geraten. Ebru spürte, wie ihre Haut verbrannte.

Einige der Frauen wurden ohnmächtig, für sie gab es keine Rettung mehr. Ebru konnte mit drei anderen Frauen über den Luftschacht ins Freie klettern, die anderen verbrannten bis zur Unkenntlichkeit. Die 18jährige Özlem Ercan konnte später nicht einmal mehr durch einen DNA-Test identifiziert werden. Sie hatte fünf Jahre im Gefängnis gesessen und stand kurz vor ihrer Entlassung.

Der gerichtsmedizinische Bericht gibt Hinweise darauf, was in jener Nacht wirklich passiert ist. Bei fünf Frauen aus der Zelle C1 wurden Verbrennungen als Todesursache diagnostiziert, eine Frau ist durch eine Gas- und Rauchvergiftung umgekommen. In der Zelle seien 35 Gramm Reizgas eingesetzt worden, in einem Raum dieser Größe genügten jedoch schon 20 Gramm, um in 38 Sekunden tödlich zu wirken.

Zudem fanden die Gerichtsmediziner Rückstände von Sprengstoffen. Einige der Gaspatronen explodierten bei dem Einsatz nicht, sonst wären die Frauen wahrscheinlich alle an Vergiftungen gestorben. Die Brandverletzungen werden darauf zurückgeführt, dass sich das Reizgas teilweise entzündete. Es hätte nicht in so hohen Dosierungen in einem so kleinen Raum und nicht gleichzeitg mit Schusswaffen eingesetzt werden dürfen, stellt der Bericht fest.

Die ballistischen Untersuchungen haben auch die Behauptung widerlegt, dass die Gefangenen auf die angreifende Polizei geschossen hätten. In Bayrampasa, Ümraniye und Çannakkale wurden Schusswaffen ausschließlich von den Sicherheitskräften eingesetzt. Die Ärzte stellten fest, dass die zwei erschossenen Soldaten an Kugeln starben, die aus Schnellfeuerwaffen abfeuert wurden. Die Gefangenen aber besaßen nur Pistolen. Als Todesursache wurde bei zehn Gefangenen eine Schussverletzung diagnostiziert, drei starben an Vergiftungen, einer an Schlagverletzungen und einer an den Folgen einer durch eine Reizgasbombe verursachten schweren Kopfwunde. Nur bei sechs Häftlingen diagnostizierte die nicht für ihre polizeifeindliche Haltung bekannte türkische Gerichtsmedizin Selbstverbrennung als Todesursache.

Der Tod der beiden Soldaten dürfte die unbeabsichtigte Folge von »friendly fire« gewesen sein. Ob die hohe Zahl der Toten tatsächlich auf den fahrlässigen Umgang mit Reizgas und Pannen beim Sturmangriff zurückzuführen ist, bleibt fraglich. Die nun dokumentierten Fakten sprechen eher dafür, dass der Staat Tote bewusst einkalkuliert, wenn nicht sogar gewollt hat.

Das Ziel der Aktion jedenfalls wurde erreicht. Entgegen vorherigen Zusagen wurden nach der Operation binnen weniger Tage alle politischen Gefangenen in die Spezialgefängnisse verlegt. Und es trat ein, was die Gefangenen befürchtet hatten. Weil die türkischen Gesetze den Kontakt zwischen unter dem Anti-Terror-Gesetz verurteilten Häftlingen verbietet, werden die Gefangenen in Ein- und Zwei-Mann-Zellen gehalten. Es gibt keine Gemeinschaftsräume, der Zugang zu Büchern und Schreibmaterialien ist eingeschränkt. Der Hungerstreik wird deshalb von denen fortgesetzt, die noch dazu in der Lage sind. Inzwischen wurden viele aus den Sicherheitstrakten wegen der Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes gegen ihren Willen in Krankenhäuser verlegt und zwangsweise ernährt.

Die Justiz hat jetzt die totale Kontrolle über die politischen Gefangenen. Und auch wenn die Art, in der die überwiegend stalinistischen Organisationen den Hungerstreik durchführten, in vielen Punkten kritisiert werden muss, hat diese Entwicklung gezeigt, wie berechtigt die Forderungen der Gefangenen sind.

Die Menschenrechtsverletzungen, die im vergangenen halben Jahr bei der Bekämpfung des Hungerstreiks begangen wurden, haben in der türkischen Öffentlichkeit relativ wenig Interesse gefunden. Um die Isolation der Gefangenen zu durchbrechen, wird schon lange auch außerhalb der Gefängnisse gehungert. Bei einem Solidaritätshungerstreik von Angehörigen der Gefangenen starb vor zehn Tagen die 21jährige Studentin Zehra Kulaksiz. Zwei Monate zuvor war bereits ihre 19jährige Schwester Canan im sogenannten Todeshaus im Istanbuler Armenviertel Kücükarmutlu gestorben. Sie hungerten aus Solidarität mit einem Onkel, der im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Kartal einsitzt. Bisher starben dort drei Frauen, vier weitere Angehörige von politischen Gefangenen hungern weiter.