Doppelte Opfer

Die Debatte über das Pogrom an den Juden von Jedwabne erschüttert das polnische Selbstbild.

Am Morgen des 10. Juli 1941 wurden die jüdischen Bewohner der ostpolnischen Kleinstadt Jedwabne aufgefordert, sich zu Ordnungsarbeiten auf den Marktplatz zu begeben. Sie hatten das schon mehrfach tun müssen, aber erkannten schnell, dass sie an diesem Tag nicht nur die üblichen Schikanen zu erwarten hatten, sondern sich in einer tödlichen Gefahr befanden.

Viele Bauern aus der Umgebung waren angereist, auf den Straßen fanden individuelle Gewaltexzesse gegen Juden statt. Einige Männer wurden auf den Friedhof getrieben und dort umgebracht. Eine andere Gruppe wurde gezwungen, das von den Sowjets aufgestellte Lenin-Denkmal einzureißen, es durch die Gegend zu tragen und dazu zu singen: »Wegen uns der Krieg, für uns der Krieg.« Danach trieb der Mob die verbliebenen Menschen in eine Scheune, übergoss diese mit Benzin und zündete sie an. So starben ungefähr 1500 polnisch-jüdische Menschen in Jedwabne - umgebracht von ihren Nachbarn.

Dies sei größte selbstkritische Debatte, die Polen nach der »Wende« erlebt hat, urteilten nicht wenige, als nach der Veröffentlichung des Buches »Nachbarn« von Jan Tomasz Gross Ende vergangen Jahres täglich längere Artikel zum Thema Jedwabne in den großen polnischen Tageszeitungen erschienen. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CBOS vom Mai 2001 zufolge wissen inzwischen 83 Prozent der polnischen Bevölkerung über das Pogrom Bescheid. Damit wird zum ersten Mal im großen Maßstab über das Verhältnis zwischen Polen und Juden während des Zweiten Weltkrieges gesprochen.

Bereits in den achtziger Jahren hatte es in kleinen intellektuellen Kreisen erste Diskussionen gegeben. Sie wurden angeregt von Claude Lanzmanns Film »Shoah«, in dem polnische Bauern in Treblinka ihre Gleichgültigkeit gegenüber der Judenvernichtung demonstrierten, oder von dem Essay des Krakauer Literaturwissenschaftlers Jan Blonski »Die armen Polen blicken aufs Ghetto«, in dem er forderte, sich der polnischen Mitverantwortung am Massenmord zu stellen.

Während Blonski noch sehr vorsichtig in seinen Aussagen war und einschränkend erwähnte, kein vernünftiger Mensch könne behaupten, dass die Polen am Massenmord direkt beteiligt gewesen seien, fiel das Resümee von Gross sehr viel schärfer aus. Er spricht von einer aktiven Beteiligung der Polen an Verfolgung und Vernichtung von Juden.

Hanna Swida-Ziemba, Soziologin an der Warschauer Universität, nimmt das Pogrom zum Anlass, den polnischen Antisemitismus der Zwischenkriegszeit wie auch seine aktuellen Erscheinungen zu reflektieren. Sie findet es wesentlich, die universellen gesellschaftlichen Mechanismen zu analysieren, um die Tagesaktualitäten zu begreifen; zudem spricht sie von einem »gesellschaftlichen Erbe von Einstellungen«, das man kennen sollte, um es wirksam bekämpfen zu können.

Man müsse den polnischen Antisemitismus sowohl historisch wie auch in der heutigen Zeit ernster nehmen, da er die ideologische Grundlage für Pogrome lieferte. Es sei zum Beispiel ein Skandal, dass sich politische Gruppierungen nach wie vor positiv auf die Tradition der Nationaldemokraten der Zwischenkriegszeit (Endecja) beziehen, die extrem antisemitisch eingestellt waren. Das Wissen um Jedwabne solle nicht nur eine Revision der polnischen Geschichtsschreibung bewirken, sondern auch Stereotypen aufbrechen, die diese bisher nicht hinterfragt habe.

Dazu gehört zum Beispiel die Überzeugung, dass es einen entscheidenden Unterschied gebe zwischen dem - bereits drastischen - Antisemitismus der Zwischenkriegszeit und einem Verbrechen des Ausmaßes, wie es in Jedwabne begangen wurde. Der bekannte Bürgerrechtler Jacek Kuron sieht es als notwendig an, sich endlich mit dem historischen Faktum auseinanderzusetzen, dass Polen Verbrechen an Juden begangen haben. Obgleich dies bereits lange bekannt sei, komme es erst jetzt zu einer solchen Debatte - aber besser spät als nie.

Die extreme Rechte Polens reagierte auf Gross' Buch unter anderem mit einer Auftragsarbeit. Der Nortom-Verlag aus Wroclaw, der in Deutschland im Oktober 2000 während der Frankfurter Buchmesse bekannt wurde, wo dessen Stand nach Hinweisen auf das nationalistische und antisemitische Verlagsangebot von den Veranstaltern geräumt werden musste, orderte bei Lech Niekrasz das Buch »Operation Jedwabne - Mythen und Fakten« .

Es liegt inzwischen in vielen Buchhandlungen neben »Nachbarn« aus und ist zu einem ähnlichen Verkaufsschlager geworden. In dem Werk wird zunächst die Zahl der Toten bezweifelt, mit dem aus so genannten revisionistischen Kreisen bekannten »Argument«, dass so viele Menschen niemals in eine Scheune »gepasst« hätten. Überdies gehe es immer nur um die Juden, während die vielen polnischen Opfer des hauptsächlich von Juden gestellten NKWD vergessen würden. Außerdem hätten viele Polen im Zweiten Weltkrieg Juden gerettet; wer aber könne schon von Juden berichten, die Polen vor dem NKWD gerettet hätten? Solche Fälle gebe es nicht, obwohl es hierzu massenhaft Gelegenheit gegeben habe.

Eine andere Argumentation lautet, dass es die Deutschen waren, die die Jedwabner Juden umgebracht hätten. Außerdem versuche Gross lediglich, die Rolle der Deutschen während des Pogroms zu verharmlosen. Andererseits hätten die Polen aber eben einen Grund gehabt, die Juden zu ermorden.

Erstaunlich sind auch die unqualifizierten Methoden, mit denen einige Historiker von Rang und Namen versuchen, die Geschehnisse von Jedwabne, so wie Gross sie beschreibt, herunterzuspielen oder unglaubwürdig zu machen. Gerne werfen sie ihm z.B. vor, den »historischen Kontext« außer Acht gelassen zu haben und meinen damit vor allem das angeblich polenfeindliche Verhalten der Juden während der sowjetischen Okkupation zwischen September 1939 und Juni 1941. Der an der Katholischen Universität Lublin beschäftigte Geschichtsprofessor Tomasz Strzembosz spricht vom jüdischen »Verrat in den Tagen der Niederlage« von 1939 bis 1941 und erläutert ausführlich Fälle, in denen Polen von Juden Unrecht getan wurde.

Damit suggeriert er, was die Rechtsextremen aussprechen: Die Juden waren selbst schuld, der Massenmord von Jedwabne war nichts weiter als ein verständlicher Racheakt. Mit besonderer Leidenschaft wird in diesem Zusammenhang die Frage diskutiert: Wer hat eigentlich wen freudiger begrüßt? Die Juden die Rote Armee im September 1939, damit sie endlich zusammen mit den Russen gegen die Polen vorgehen können? Oder die Polen die einmarschierenden Deutschen im Juni 1941 als Befreier vom sowjetischen Terror und von den Juden?

»Die« Juden, »die« Polen - ungeniert bedienen sich die Wissenschaftler dieser Stammtischkategorien. Nur wenn Gross in einer von vielen missverstandenen Polemik über den Gedenkstein von Jedwabne von der »Gesellschaft« spricht, die mordete, ist man sich einig, dass er in unzulässiger Verallgemeinerung das im Westen grassierende Stereotyp vom polnischen Antisemitismus verbreite und damit das polnisch-jüdische Verhältnis nachhaltig störe.

Professor Tomasz Szarota von der polnischen Akademie der Wissenschaften ist Gross dankbar dafür, dass er den Mut hatte, die »dunklen Seiten der polnisch-jüdischen Beziehungen« während der deutschen Okkupation auf die Tagesordnung zu setzen. Allerdings kann Professor Szarota nicht verstehen, wie »1 500 gesunde, in vollen Kräften stehende Personen von weniger als 100 nur mit Knüppeln bewaffneten Verbrechern in den Tod geführt werden konnten und wieso niemand sich verteidigte oder flüchtete«. Dieses Geheimnis kläre Gross nicht auf.

Eine Antwort auf diese Frage findet Jacek Zakowski, der die Debatte mit einem Artikel in der größten polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza eröffnete, in der von Gross beschriebenen Geschichte von Michal Kuropatwa. Dieser wurde wieder aus der Scheune herauszogen, weil er einst einen polnischen Offizier versteckt hatte. Er wollte aber lieber mit den anderen Juden in der Scheune sterben, als sich von den Mördern retten zu lassen.

Hier wird das Klischee bedient, die Juden hätten sich »wie die Schafe zur Schlachtbank« treiben lassen. Dabei ist in »Nachbarn« ausführlich beschrieben, dass es sich bei den Juden auch um Kinder und Alte handelte, die schon den ganzen heißen Juli-Tag über gequält und festgehalten worden waren. Und dass »gesund und kräftig« eher die jungen polnischen Männer waren, die ohnehin bessere Waffen hatten als nur Knüppel. Nicht unerwähnt lässt Gross die zahlreichen Versuche von Juden, sich in den Feldern zu verstecken. Viele von ihnen sind von Suchtrupps aus dem Ort schnell aufgespürt worden.

Adam Cyra, Mitarbeiter der Staatlichen Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, versuchte, das Ansehen eines der aktivsten jugendlichen Mörder vom 10. Juli 1941, Jerzy Laudanskis, wiederherzustellen. Schließlich sei er ja politischer Häftling in Auschwitz, Groß-Rosen und Sachsenhausen gewesen und stamme aus einer geschätzten patriotischen Familie. Anscheinend fällt es schwer anzuerkennen, dass dieselbe Person zugleich Täter und Opfer sein konnte. Patriotismus wird als uneingeschränkt positive Eigenschaft gewertet, ein Zusammenhang zwischen Patriotismus und Antisemitismus wird nicht hergestellt.

Gleichzeitig spricht der durch seine Kritik an der Wehrmachtsausstellung bekannt gewordene Bogdan Musial, Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut in Warschau, im Kontext von Jedwabne von »mythischer Geschichtsschreibung«. In Polen benötige man keine von »negativem Nationalismus geprägte« Vergangenheitsbewältigung wie »die Deutschen«, die ihre nationale Identität aus der Überzeugung zögen, die »größten Verbrecher« zu sein.

Auch in Polen gebe es Stimmen, die sich - überzeugt von ihrer Fortschrittlichkeit - in philosophisch-moralischen Überlegungen ergössen. Musial meint damit vor allem diejenigen Personen, denen das Wissen um den Charakter und das Ausmaß des Pogroms ausreicht, um die moralischen Aspekte des Geschehens zu reflektieren. Dabei, so Musial, komme es doch auf die Details an, und die hätte Gross nicht erforscht. Dieser Ansatz wurde von einer Zeitung mit der sarkastischen Überschrift »Skelette zählen« wohl treffend charakterisiert.

Auch das Institut des Nationalen Gedenkens (IPN, eine staatliche Einrichtung mit teils staatsanwaltlichen Kompetenzen), schloss sich der Auffassung an, es müsse alles erst »wissenschaftlich« untersucht werden, bevor Schlüsse gezogen werden können. Darunter verstand auch das IPN »Skelette zählen« und führte Exhumierungen in Jedwabne durch. Über Einwände jüdischer Gruppen gegen die Störung der Totenruhe wurde dabei großzügig hinweggesehen. So werden die Opfer im zweifelhaften Anliegen, die Unverbesserlichen so von der Wahrheit des Verbrechens zu überzeugen, ein zweites Mal missbraucht.

Die Intensität der Debatte zeigt das Bedürfnis vieler Polen, sich mit diesem lange tabuisierten Teil ihrer Geschichte zu befassen. Das noch aus der Teilungszeit (1795-1918) stammende polnische Selbstbild des unschuldigen und stets widerständigen Opfers der Großmächte wurde angekratzt. Trotz verschiedener Rettungsversuche ist es fraglich, ob es diese Debatte überleben wird. Auf jeden Fall wird sie im polnischen Selbstverständnis Spuren hinterlassen.