Debatte über Jospins trotzkistische Vergangenheit

Kein Grund, rot zu werden

Die Debatte um die politische Vergangenheit Lionel Jospins rückt auch die Geschichte der Trotzkisten in Frankreich wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit.

Deutlicher ging es kaum noch. »Jene, die hinter dieser Affäre stecken«, erwiderte Präsident Jacques Chirac in seiner Ansprache zum Nationalfeiertag am 14. Juli auf Korruptionsvorwürfe, »sind die ewigen Gegner der Gesellschaft. Jene, die in Wahrheit das Ziel verfolgen, nicht die Moral zu suchen, sondern die Gesellschaft zu zerstören. (...) Sie haben eine Denkschule in Frankreich, die den Staat zerstören will.«

Diese Anspielungen, darüber waren sich viele KommentatorInnen einig, meinen den amtierenden Regierungschef Lionel Jospin, oder genauer gesagt, dessen Jugendjahre. Denn nicht nur in Deutschland hat das linke »Unruhepotenzial« seine Karrieristen hervorgebracht, die zu erfolgreichen Charaktermasken der herrschenden Ordnung wurden. Was die konservativen Kräfte nicht daran hindert, ihnen in billigen Anspielungen ihre Vergangenheit vorzuhalten.

Seit Jahren kursieren Informationen, Jospin sei in den sechziger und siebziger Jahren trotzkistischer Aktivist gewesen, was er selbst jedoch immer abstritt. In den Jahren 1997 und 1999 gab es eine Reihe von Berichten in den Medien, und ehemalige Genossen Jospins meldeten sich zu Wort (Jungle World, 35-36/99).

Daher handelte es sich eigentlich bereits um eine bekannte Tatsache, als die Pariser Zeitung Le Monde Ende Mai dieses Jahres der »trotzkistischen Vergangenheit Jospins« ein größeres Dossier widmete. Doch diesmal reagierte die gesamte Presse auf die keineswegs neue Enthüllung mit einer wochenlangen Flut von Artikeln und Kommentaren. Dafür gibt es wohl zwei Gründe.

Zum einen hatten Chiracs Berater im Hinblick auf den kommenden Wahlkampf bereits Dossiers zum Thema gesammelt. In der Redaktion von Le Monde, die Jospin unterstützt, kalkulierte man dagegen, dass es allemal besser sei, die vermeintliche Bombe jetzt platzen zu lassen als kurz vor den Wahlen im April 2002.

Jospin trat umgehend die Flucht nach vorne an und bekannte sich Anfang Juni vor dem Parlament erstmals zu seiner politischen Jugend. Um ein interessantes »intellektuelles Experiment« habe es sich immerhin gehandelt, so Jospin, außerdem habe die trotzkistische Linke historisch weder die Verbrechen des Stalinismus zu verantworten noch jene des Kolonialismus. In letztere war die französische Sozialdemokratie in den fünfziger und sechziger Jahren tief verwickelt. Daher brauche er heute, fuhr Jospin fort, »wenn ich das so sagen darf, nicht rot zu werden«.

Das andere Motiv für die vermeintlichen Enthüllungen war, dass diejenigen Kräfte der revolutionären Linken in Frankreich, die sich auf den Trotzkismus beziehen, im März bedeutende Gewinne bei den Kommunalwahlen zu verzeichnen hatten. Daneben spielten sie auch in sozialen Mobilisierungen, etwa gegen die Massenentlassungen im Frühjahr, eine wichtige Rolle.

Was aber hat es nun mit dem viel diskutierten französischen Trotzkismus auf sich? Tatsächlich besitzt diese Strömung des Marxismus in Frankreich eine weit größere Bedeutung als in den deutschsprachigen Ländern. Bereits Mitte der dreißiger Jahre konnte sie sich als politische Kraft links von der KP etablieren, vor allem beim Generalstreik im Mai und Juni 1936 und während der Aktionen der Arbeiterbasis gegen die so genannte Volksfront-Regierung. Während des Zweiten Weltkriegs existierten kleine trotzkistische Gruppen am Rande der Résistance, ihre Mitglieder wurden jedoch mitunter auch von Mitgliedern der KP getötet. Der Mord an mehreren Aktivisten in der Region Limousin ist Mitte der neunziger Jahre von der französischen KP zugegeben worden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand für einige Jahre ein Organisationskern der trotzkistischen Strömung unter dem Namen Parti Communiste Internationaliste (PCI), aus dem die beiden Organisationen LCR und OCI hervorgingen. Daneben agierte seit den späten vierziger Jahren eine kleine Gruppe, die es schaffte, 1947 einen Generalstreik beim Automobilproduzenten Renault auszulösen, dem sich die KP-nahe Gewerkschaft CGT anschließen musste.

Die kleine Gruppe namens Voix ouvrière (Arbeiterstimme) konnte in den folgenden Jahren als winziger Organisationskern bestehen bleiben, der von seinem Erfolg beim großen Renault-Streik zehrte. In den Betrieben war die Gruppe schärfsten Repressalien seitens der Unternehmer wie auch der KP und der CGT ausgesetzt. Aus dieser Zeit stammt eine Strategie, die vor allem auf das Überleben eines kleinen, politisch bewussten Kerns ausgerichtet ist und daher relativ wenig in relevante soziale Bewegungen interveniert.

Aus der Gruppe Arbeiterstimme entstand am Ende der sechziger Jahre die heutige Organisation Lutte Ouvrière (Arbeiterkampf). Längst aber ist ihre Arbeitsweise zum Hindernis für ihr Wachstum geworden. Dieser Widerspruch führte zu internen Spannungen und Spaltungen. Denn spätestens seit den Präsidentschaftswahlen von 1995 - die LO-Kandidatin Arlette Laguiller erhielt 1,6 Millionen Stimmen (5,3 Prozent) - hat die Partei ein Massenpublikum. Ihren Erfolg verdankt sie zum Beispiel ihrem Netz aus Betriebszeitungen, das es ihr erlaubt, der Arbeiterbasis nahe zu bleiben. In den letzten Jahren war auch eine gewisse Öffnung der Partei zu sozialen Bewegungen zu beobachten.

Aus einer anderen Tradition kommt die LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire). Der harte Kern entstand 1965, als eine Reihe junger Leute wegen »Linksabweichung« aus der Studierendenorganisation der KP ausgeschlossen wurden. Die von ihnen gegründete Revolutionäre Kommunistische Jugend (JCR) wurde - neben zwei anderen Gruppen - zum Rückgrat der Bewegung im Mai 1968. In deren Folge entstand neben der JCR die Ligue Communiste, die sich nach ihrem Verbot 1973 unter dem Namen LCR neu gründete.

Anders als die LO beteiligte sich die LCR seit den frühen siebziger Jahren an einer Vielzahl sozialer und internationalistischer Bewegungen wie der feministischen und der antimilitaristischen, oder an den Kämpfen der ImmigrantInnen.

Bei Wahlen hatte die LCR allerdings oftmals das Nachsehen gegenüber der kontinuierlich kandidierenden Organisation LO, unter anderem weil sie aus Rücksicht auf die oft wechselnden BündnispartnerInnen unter diversen Listennamen antrat. Erst seit den Regionalwahlen des Jahres 1998 holt die LCR auf. Zu den Präsidentschaftswahlen im April 2002 hat die LCR einen jungen Kandidaten nominiert. Der 27jährige Olivier Bezancenot ist Mitglied der linken Basisgewerkschaft der Postangestellten (SUD-PTT). Die LO hingegen wird zum fünften Mal seit 1974 ihre prominente Kandidatin Arlette Laguiller ins Rennen schicken.

Nur am Rande zu erwähnen ist schließlich die Organisation, der Lionel Jospin angehörte. Die ehemalige OCI heißt heute Parti des travailleurs (PT). Im Gegensatz zur LO und zur LCR, die eine nennenswerte politische Arbeit betreiben, handelt es sich beim PT um eine streng autoritäre Politsekte, die meist im Verborgenen und innerhalb größerer, oft sozialdemokratischer Apparate wirkt.