Venezuela nach der Rückkehr Chávez'

Die Schäflein finden wieder heim

Trotz der politischen Auferstehung des ehemaligen Fallschirmjägers Hugo Chávez ist der gesellschaftliche Bruch in Venzuela offensichtlich. von , caracas

Die buhoneros, die Straßenhändler, verkaufen ihre Waren wieder vor den großen Einkaufszentren in Caracas. Alles sieht nach einer Rückkehr zur Normalität aus. Im Palacio de Miraflores, dem Sitz der Exekutive, hat Hugo Chávez wieder die Kontrolle über Venezuela übernommen, und die unaufhörlichen Rufe nach »Dialog und Versöhnung« sollen die schwer wiegende gesellschaftliche Polarisierung überdecken.

Trotz der frommen Wünsche nach Stabilität ist die latente Gewalt seit den jüngsten Ereignissen, bei denen insgesamt 46 Personen ums Leben kamen, in Venezuela weiter spürbar. Der »Putsch« und der anschließende »Gegenputsch«, der dank der starken Mobilisierung zugunsten von Chávez und der institutionellen Kurskorrektur der Streitkräfte innerhalb von 48 Stunden stattfand (Jungle World, 17/02), haben die Bevölkerung verblüfft und in Aufruhr versetzt.

Marta Sogo, die Vorsitzende einer zivilen chavistischen Vereinigung in Guarena, erklärt mit Nachdruck, dass »es in allen Regierungen und in allen Ländern Leute« gibt, »die nicht mit ihrem Präsidenten einverstanden sind, aber hier haben wir eine Regierung, die für die Mehrheit eintritt. Wir haben sieben Wahlgänge durchlaufen, und, verdammt, wenn das keine Demokratie ist, was ist es dann?«

»Hier kann sich weder die Diktatur der Minderheit noch der Medien durchsetzen«, sagt Cilia Flores, die zur Führung des Movimento V República (MVR) gehört, der Organisation von Chávez.

Noch immer gibt es offene Fragen in dem politischen Drama, das sich Mitte April abspielte. Die mediale Aufmerksamkeit richtet sich weiter auf die Heckenschützen, die in der Umgebung des Präsidentenpalastes postiert waren. Angeblich traten sie in eine bewaffnete Auseinandersetzung mit Polizeikräften im Dienst von Bürgermeistern, die Chávez feindlich gesinnt sind, was zu den ersten 17 Todesopfern am 11. April führte. So endete der erste Tag des unbegrenzten Streiks nach zwei Tagen oppositioneller Mobilisierung. Unterdessen meldete die venezolanische Presse den angeblichen Rücktritt von Chávez und kündigte am folgenden Tag die Bildung einer zivil-militärischen Junta unter der Leitung von Pedro Carmonades an, dem Vorsitzenden des Unternehmerverbandes Fedecámaras. Er steht gegenwärtig unter Hausarrest.

Auch die oppositionellen Kritiker wenden sich gegen die umstrittenen circulos bolivarianos, die sie für eine Art parapolizeilicher Truppe des MVR halten und gerne mit der SS in Nazideutschland vergleichen. »Man will die circulos bolivarianos brandmarken. Man will sie als bewaffnete Stoßtrupps, als paramilitärische Instanzen darstellen, dabei sind es gesellschaftliche Organisationen«, sagt Angel Rodríguez, ein Abgeordneter des MVR und einer der Koordinatoren der Fuerza Bolivariana de Trabajadores (FBT), des gewerkschaftlichen Arms des Chavismus.

Alfredo Valotta, ein in Caracas lebender argentinischer Anarchist, betont den vorkriegsähnlichen Zustand in Venezuela: »Die politische Diskussion ähnelt heute immer mehr einem Zusammenstoß von Mafiosi.«

Teodoro Petkoff, Direktor der Abendzeitung Tal Cual und ehemaliger Militanter der venezolanischen Linken, fügt hinzu, dass während der jüngsten Ereignisse »Chávez entdeckte, dass er sterblich ist. Er glaubte, dass seine Macht nicht angreifbar war«, meint er. »Er erlitt einen Schock und änderte seine Sprechweise. Weil seine Revolution bisher rein rhetorisch bleibt, ist der Wandel in seiner Sprache bezeichnend. Plötzlich hat er sich in einen ruhigen Typ verwandelt, der nicht angreift. Wir werden sehen, was passiert.«

In diesem Sinne lassen sich die Erklärungen von Chávez vor einem Treffen von Regierungsmitgliedern und Bürgermeistern verstehen, das im Salón Ayacucho im Präsidentensitz stattfand, an demselben Ort, wo Carmona sich selbst vereidigt hatte. »Ich habe mein Schwert in die Scheide gesteckt und bitte das Land, dass ich es nicht mehr ziehen muss, und ich versichere, dass ich das Land für immer schützen will«, sagte er bei dieser Gelegenheit.

Doch sein polemischer Ton gerät nicht ganz in Vergessenheit. So erklärte er, dass der Staatsstreich ohne die Hilfe der Massenmedien und insbesondere des Fernsehens nicht möglich gewesen wäre. »Wenn sie so weitermachen wollen und wir es zulassen, werden sie uns in einen Krieg treiben. Ist es das, was wir wollen? Dass das in einem Bürgerkrieg endet? Welchen makaberen Plan gibt es hinter alledem?«

Der Abgeordnete Angel Rodríguez meint zu wissen, was den Kern des Konflikts ausmacht: »Das wesentliche Problem besteht darin, dass die Schichten, die traditionell das Land regierten, abgelöst wurden; 40 Jahre Demokratie waren 40 Jahre Unterdrückung für die venezolanische Bevölkerung, die in der paradoxen Situation lebt, dass das Land zweitgrößter Ölexporteur für die Vereinigten Staaten ist und eine Armutsrate von 80 Prozent hat.« Womit er teilweise Recht hat.

»In Wirklichkeit ist das einzig Befreiende der Regierung Chávez der Wille, demokratisch zu sein, trotz ihrer autoritären Neigung. In diesen drei Jahren gab es weder Gefangene noch Verfolgte noch Tote. Außerdem hat Chávez die soziale Frage auf die Tagesordnung gesetzt, aber materiell haben die Armen nichts gewonnen. Auch wenn das wichtig ist, das einzige ist die Erhöhung ihres Selbstwertgefühls«, sagt Petkoff.

Die Karten werden neu gemischt. Am 24. April ließ die Leitung des Militärgeheimdienstes die Luxusresidenz des Unternehmers Isaac Pérez Recao einreißen, der von der Journalistin Patricia Poleo beschuldigt wird, einer der intellektuellen Urheber des gescheiterten Staatsstreichs zu sein. Poleo ist Miteigentümerin von Nuevo País, einer Publikation, die in den letzten Wochen ausverkauft war und sogar fotokopiert im Zentrum von Caracas verkauft wurde.

Die Journalistin hatte Informationsquellen in dem Kreis, der Carmona bei seinem gescheiterten Putschversuch unterstützte. Während des »Gegenputsches« - der auch zu Plünderungen führte, etwa in dem hauptstädtischen Viertel Catia, wo mehrere Menschen getötet wurden - floh Pérez Recao aus dem Land, nachdem er von der Präsidentengarde, die gegenüber Chávez immer loyal und gegenüber Carmona feindlich auftrat, verprügelt worden war.

Ein weiterer Punkt, der diskutiert wird, ist die Intervention der USA. Dem US-Magazin Newsweek zufolge gab es Kontakte zwischen wichtigen US-Politikern und venezolanischen Unternehmern. Otto Reich, der in der Regierung Bush mit Lateinamerika betraut ist, und der venezolanische Medienmagnat Gustavo Cisneros werden als Schlüsselfiguren in dieser Intrige bezeichnet. Beide dementieren jede Teilnahme an dem Versuch, Chávez zu stürzen.

Arturo Valenzuela, der unter William Clinton für die Region zuständig war, behauptet, dass »die Entscheidung Washingtons, sich nicht der Verurteilung des Putsches anzuschließen und die auf legitime Weise gewählte Regierung nicht zu unterstützen, keine fundamentale Wende darstellt, sondern einen Fehltritt, ein Produkt von Irrtümern und Koordinationsmängeln auf den höchsten Ebene«.

»Chávez kehrt in die Regierung zurück, aber in einer Situation beeindruckender Instabilität. Schließlich sind die Streitkräfte äußerst gespalten; es gibt eine politische Krise, die ein Klima gesellschaftlichen Hasses schafft. Subjektiv sind in Venezuela alle Bedingungen für einen Bürgerkrieg vorhanden«, meint Teodoro Petkoff.

Vorwürfe gegen den gegenwärtigen Präsidenten gibt es in der Bevölkerung zur Genüge. »Chávez hat das größte politische Kapital in der Geschichte Venezuelas gehabt, und der carajo hat es geschafft, es in drei Jahren zu verjubeln. Er hatte die Möglichkeit, mit der Zustimmung der Mehrheit alle möglichen Veränderungen durchzuführen, und er hat sie nicht genutzt«, sagt Martín, ein Freiberufler.

Andere richten ihre Aufmerksamkeit auf Luis Miquilena, den wichtigsten politischen Akteur des »bolivarianischen Prozesses«. Er gab Mitte Januar seinen Posten als Innen- und Justizminister auf. Der Anarchist Alfredo Valotta deutet an, dass Miquilena sich »das ganze Geschäft für Chávez ausgedacht hat. Sagen wir, dass er das Individuum war, das einen für sein Werk nützlichen Schauspieler traf und diesem das Drehbuch schrieb. Und heute applaudiert das Publikum dem Schauspieler.«