Ökonomische Krise

Balanceakt ohne Netz

Zwischen dem IWF und der Bevölkerung: Argentiniens Interimspräsident Eduardo Duhalde steckt in der Klemme.

Mitten in der wohlhabenden Vorstadt San Isidro hat Norma Albino ein Fanal gesetzt. Um halb zwölf, am Tag ihres 58. Geburtstags, übergoss sich die Langzeitarbeitslose in einer Bankfiliale in der Nähe der Hauptstadt Buenos Aires mit Alkohol und zündete sich an. Kurz zuvor hatten ihr Angestellte der von der Pleite bedrohten Bank Río erläutert, dass ihre Ersparnisse, rund 8000 Dollar, auf unabsehbare Zeit unerreichbar bleiben würden; die Frist zum Umtausch in Schuldscheine hatte sie verstreichen lassen.

»Inzwischen ist Norma zwar außer Gefahr, aber weiterhin gefangen im Laufstall«, resümierte die linksliberale Zeitung Página 12 in Anspielung auf die im Dezember vorgenommene Einfrierung der Bankguthaben, genannt Corralito (»Laufstall«). Bereits die einwöchige Schließung aller Banken Ende April hatte das Pulverfass Argentinien fast zur Explosion gebracht. Der soziale und politische Konflikt spitzt sich zu, je länger die weitgehend handlungsunfähige Regierung vergeblich auf einen neuen Kredit des Internationalen Währungsfonds (IWF) wartet.

Dem geschwächten peronistischen Interimspräsidenten Eduardo Duhalde steht nach einer großen Kabinettsumbildung eine weitere entscheidende Woche bevor, in der er abermals versuchen wird, die vom IWF diktierten Maßnahmen durch das Ober- und Unterhaus zu bringen: die Lösung des Corralito, die Abschaffung des protektionistischen Konkursgesetzes und die Streichung eines Gesetzes, das rund 40 korrupte Banker und Unternehmer hinter Gittern hält. Die vergangenen 14 Tage haben jedoch bereits gezeigt, dass Duhalde, der seinen Wählern gegenüber gern gegen den IWF wettert, nur um später dessen Vorgaben zu befolgen, dazu kaum noch Spielraum bleibt.

Massendemonstrationen von erzürnten Sparern, linken Gruppen und Nachbarschaftsversammlungen vor dem Kongress hatten das Parlament und den Senat dazu bewegt, die Umwandlung der Sparguthaben in Staatsanleihen abzulehnen, mit der der Corralito auf Kosten des Staates und der Sparer sein Ende gefunden hätte. Postwendend hatte Wirtschaftsminister Jorge Remes Lenicov, Duhaldes langjähriger Begleiter, seinen Rücktritt erklärt, der Rest des Kabinetts folgte binnen weniger Stunden.

Duhalde, der es noch in den neunziger Jahren als Gouverneur von Buenos Aires stets verstand, auf Staatskosten politische Freunde zu kaufen, stand plötzlich alleine da. Nicht nur seine Minister, auch dieselben Parlamentarier, die ihn im Januar eingesetzt hatten, sowie der Hugo Moyano treue Flügel der Gewerkschaft CGT kehrten ihm den Rücken zu. Dem Präsidenten blieb ein Stoßgebet: »Nun komme, was Gott will.«

Dreh- und Angelpunkt der Debatte, an der sich die Regierung aufreibt, sind die Forderungen des IWF, die Duhalde möglichst erfüllen will. Dabei gehe es ihm nicht einmal hauptsächlich um die in Aussicht gestellte nächste Kredittranche von neun Milliarden Dollar, die ohnehin zum Großteil in den Schuldendienst fließen würden, erklärte er. Wichtiger sei, dass von der Wiederaufnahme der IWF-Zahlungen nicht nur die Glaubwürdigkeit Argentiniens für Investoren abhänge, sondern auch weitere Kredite der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank. »Wir könnten es auch ohne den Fonds versuchen«, hat Duhalde inzwischen eingeräumt, »aber das wäre ein sehr harter Weg«.

Tatsächlich sind im Staatshaushalt über 16 Milliarden Dollar für Zinsen und Tilgungen veranschlagt. In den Augen von Alfredo E. Calagno, Autor des Buches »Die perverse Schuld«, würde der neue Kredit »lediglich ausreichen, um ebendiese Institutionen auszuzahlen«. Wie der ehemalige Funktionär der Uno-Wirtschaftskommission für Lateinamerika in Le Monde Diplomatique erläutert, müsste das Land ohne neue Kredite den Schuldendienst einstellen. »Genau genommen hat das Hauptproblem der IWF, nicht Argentinien.«

So verwundert es nicht, dass der Währungsfonds seinen Druck auf Argentinien ständig erhöht. Über ihren Unterhändler Anoop Singh hat die von westlichen Interessen dominierte Organisation inzwischen quasi legislative und exekutive Funktionen übernommen. »Wenn das vorher nicht klar war, jetzt ist es glasklar«, schrieb Pagina 12, nachdem Singh Mitte April eine Pressekonferenz im Wirtschaftsministerium abgehalten hatte, an der kein einziges Regierungsmitglied beteiligt war. Während solche Pressegespräche bislang nur off the record üblich waren, verkündete die IWF-Mission diesmal ganz öffentlich ihr »Regierungsprogramm«. Das neue Protestmagazin El Cacerolazo schrieb, es fehlte eigentlich nur noch, »dass Singh dem Nationaltrainer Bielsa die Aufstellung für die WM vorschreibt«.

Doch Duhaldes Balanceakt geht weiter; er gleicht einem oft verzweifelt anmutenden Versuch, es sich weder mit dem internationalen Finanzestablishment noch mit der eigenen Bevölkerung zu verderben. »Es gibt keinen Plan B und keinen wirtschaftspolitischen Schwenk«, behauptete Duhalde und brachte auf dem Höhepunkt der institutionellen Krise einen medienträchtigen Pakt mit den mächtigen Provinzgouverneuren zustande. Ohne eine einzige neue Idee verkauften Peronisten und Bürgerlich-Radikale das, was das Magazin Noticias als »Pakt der Lügen« beschreibt: »Wir sagen, dass wir die Schulden zahlen, aber nicht wie oder wann; wir verkünden einen neuen Fiskalpakt mit den Provinzen, der die Ausgabe von Quasi-Geld stoppt, aber drucken weiter Schuldscheine, um die Beamten zu bezahlen; wir versprechen eine Reduzierung der Mehrwertsteuer, aber verschweigen dem Fonds, dass wir woanders die Steuern erhöhen; wir sagen, dass wir in 15 Tagen das Corralito-Problem lösen, wissen aber noch nicht einmal, ob das neue Gesetz funktioniert, das das Einklagen der Guthaben stoppen soll.«

Den Gouverneuren kommt die Schwäche des Paktes nur zugute. »Sie erahnen das Scheitern des Präsidenten und vorgezogene Wahlen im September«, vermutet La Nación und spekuliert über die möglichen Ziele von Provinzbaronen wie Carlos Reutemann, José Manuel de la Sota oder Felipe Solá. Nicht umsonst weigerten sich die peronistischen Gouverneure in der letzten Woche, sich selbst oder Vertreter ihrer Provinzen für das geplante »Bundeskabinett« zur Verfügung zu stellen. Stattdessen musste Duhalde mit der Ernennung Graciela Camaños zur Arbeitsministerin seine Schwäche gegenüber dem offiziellen Arm der Gewerkschaft CGT eingestehen. Camaño ist die Frau des Senators und Gewerkschafters Luis Barrionuevo, der die harsche Regierungskritik, die er unlängst äußerte, nun wohl unterlassen wird.

Doch auch wenn Duhalde den peronistischen Gewerkschaftsflügel ruhigstellen kann, gibt es von anderer Seite Druck. Tausende arbeitslose Piqueteros haben bei Straßenblockaden und Kundgebungen vor dem Regierungssitz den Rücktritt Duhaldes gefordert. Die Abwesenheit der Teile der Bewegung, die sich in jüngster Zeit der Regierung angenähert haben (Corriente Clasista Combativa und Central de Trabajadores Argentinos), sowie die fehlende Koordination mit den Nachbarschaftsversammlungen ließen den Marsch ohne Kundgebung jedoch harmloser enden, als es die Peronisten zunächst befürchtet hatten.

Während der Druck auf Duhalde wuchs, erkundigte sich Alan Meltzer, Lateinamerika-Berater George W. Bushs, aus Washington telefonisch bei der Zeitung Clarín: »Gibt es irgendwelche Unruhen in Buenos Aires?«