Der »Judengang« in Prenzlauer Berg wird rekonstruiert

Gegängelte Geschichte

Am Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg wird der »Judengang« rekonstruiert. Aber die Anwohner wollen nicht von zukünftigen Besuchern dieses historischen Ortes gestört werden.

Wenn der preußische König Friedrich Wilhelm III. in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Ausflug machen wollte, dann fuhr er zum Schloss Niederschönhausen kurz vor den Toren Berlins. Dort begann die stetig wachsende Stadt gerade, sich das Dörfchen Pankow einzuverleiben. Man darf vermuten, dass er bei diesen Ausflügen guter Laune und froh war, in der Sommerresidenz seiner Frau und den Zwängen der höfischen Etikette eine Zeit lang zu entkommen.

Mit der fröhlichen Ausflugsstimmung war es jedoch regelmäßig vorbei, wenn sein Tross das alte Schönhauser Tor passiert hatte. Begräbniszüge blockierten auf dem Weg zum 1827 eingeweihten neuen jüdischen Friedhof am Anfang der Schönhauser Allee die Straße. Die penetrante Trübsal vor seinen Augen scheint dem König missfallen zu haben, denn er verbot kurzerhand die Prozessionen. Die Trauerzüge wurden von der Straße verbannt, sie mussten fortan durch den Hintereingang auf den Friedhof geleitet werden, zu erreichen war der Eingang über einen Trampelpfad zwischen Friedhofsmauer und Feldern. Der »Judengang« entstand. So die Legende.

Erst die Bebauung der Kollwitzstraße mit Wohnhäusern nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges 1871 machte aus dem Feldweg eine enge Gasse, eingezwängt zwischen Hinterhöfen und der Friedhofsmauer. Zu dieser Zeit wurde der zuvor stark frequentierte Friedhof kaum noch genutzt. Aus Platzgründen hatte die Jüdische Gemeinde angefangen, auf den neuen Zentralfriedhof in Weißensee auszuweichen. Der Judengang geriet in Vergessenheit, und im Laufe der Zeit begannen ihn die Bewohner der angrenzenden Häuser für ihre Zwecke zu nutzen. Bäume wuchsen, Kaninchenställe und Sandkästen wurden gebaut, Bänke auf- und Gerümpel abgestellt. Der Gang, bis heute im Besitz der Jüdischen Gemeinde, bekam den Charme eines leicht verwilderten Kleingartens. Bis 1997 gleich zwei Ereignisse wieder die Aufmerksamkeit auf ihn lenkten.

Die Planung zur Neubebauung der Brache an der Ecke Kollwitzstraße/Metzer Straße zog eine Auflage der Berliner Denkmalschutzbehörde nach sich, an die sich der Bauherr zu halten hat. Die markante Lücke, die dort entstand, wo der Judengang zwischen gründerzeitlichen Gebäuden auf den Senefelder Platz mündet, muss in den Plänen berücksichtigt werden. Die Bebauung wird damit in zwei Blöcke aufgeteilt werden, zerschnitten vom Eingang zum historischen Judengang, den bislang ein Stahlgittertor an der Stelle des historischen Tores verschließt.

Entscheidender aber war das Projekt der aus Israel stammenden Künstlerin Esther Shalev-Gerz mit dem Titel »Die unendliche Bewegung der Erinnerung«. Shalev-Gerz befragte über 50 Anwohner, ob sie denn wüssten, was einmal zwischen der Friedhofsmauer und ihren Häusern war und was ihrer Meinung nach mit dem zweckentfremdeten Gang geschehen solle. In den auf Video aufgezeichneten Antworten beschreiben die Bewohner der angrenzenden Grundstücke ihren individuellen Bezug zu diesem Ort und denken laut darüber nach, wie der Judengang künftig gestaltet werden könnte. Ein Film entstand, der ein »kollektives Porträt der Anwohnergemeinde« liefert, gleichzeitig aber »das Recht auf Eigentum der Geschichte in Frage stellt«, wie später im Ausstellungsprospekt zu lesen war.

Nur zu deutlich wird an den Reaktionen der Anwohner der Zwiespalt zwischen historischem Bewusstsein - mit dem Wunsch, den Ort der Allgemeinheit zugänglich zu machen - und der Angst vor möglichen persönlichen Einschränkungen, die die Öffnung mit sich bringen würde. »Dann kann ich ja von hinten in mein Haus! Ich käme mir belohnt vor«, äußert eine Anwohnerin begeistert. Ein Anderer fordert, alles so zu lassen wie es ist, und nennt das »Sicherung der Friedhofsostmauer«. Esther Shalev-Gerz dokumentierte die Aussagen ohne Kommentar.

Eine Ausstellung im Prenzlauer Berg-Museum schloss das Projekt im Jahr 2000 ab. Dort lud die Künstlerin die Besucher dazu ein, ihre Ansichten an einem »runden Tisch« schriftlich darzulegen. Dieser sollte, so Shalev-Gerz, »der Ort sein, an dem gemeinsam eine künstlerische (oder sonstige) Intervention im Judengang demokratisch entschieden« wird. Ihre Idee für den Judengang war ein öffentlicher »Erinnerungsraum«, ein Ort, der die Verdrängung dokumentiert und ins Gedächtnis zurückruft.

Die Ausstellung wurde zur »Ideenwerkstatt«, in der Anwohner Anregungen zu einer möglichen Nutzung machten und Planungsvorschläge entwickelten. Es folgten Treffen zwischen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, einem Landschaftsarchitekturbüro, Anwohnervertretern, der Sanierungsgesellschaft S.T.E.R.N. und dem Kulturamt Prenzlauer Berg. Man kam zu einem einvernehmlichen Entschluss: Der Judengang soll in seinen ursprünglichen Zustand versetzt und in begrenztem Umfang der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Der Plan sieht vor, das Backsteintor zum Kollwitzplatz zu restaurieren und, eingelassen in eine Mauer, auf einem Monitor in Endlosschleife die Video-Arbeit von Esther Shalev-Gerz zu zeigen. Dazu sollen Tafeln an den Zugangstoren über die historische Bedeutung des Judenganges informieren.

Inzwischen ist die Rekonstruktion des historischen Ortes in vollem Gange. Ende September soll alles fertig sein. Doch mittlerweile ist den Anwohnern der Kollwitzstraße, zwischen Knaack- und Metzer Straße, deren Häuser an den ehemaligen Judengang grenzen, die Erinnerung nicht mehr ganz so wichtig. Jetzt, da tatsächlich Bäume gefällt, Zäune entfernt und Sandkisten planiert werden, reagieren sie empört.

Vor allem diejenigen, die sich in den vergangenen vier Jahren nicht auf den Anwohnertreffen blicken ließen. »Das ist unser Grundstück. Wenn da einer etwas bauen will, muss er zu uns kommen. Ich muss nicht zu irgendwelchen Treffen gehen. Ich will ja nichts verändern. Die können jetzt nicht einfach unsere Bäume fällen«, meint Stefan Reichmann, Geschäftsführer der GbR Kollwitzstraße 53. Man hätte sie fragen müssen, auf sie zugehen, sie ansprechen. Einer zwanghaften Inszenierung der Erinnerung fühlt sich ein anderer ausgesetzt. Voyeuristische Blicke von Touristen werden befürchtet. Um jeden Grundstücksmeter wird gekämpft, einzelne Bäume werden zurückgefordert.

Wenn der Judengang schon unbedingt rekonstruiert werden muss, dann soll er wenigstens verschlossen bleiben. Sichtbar zwar durch die Tore an beiden Seiten, zugänglich aber nur im Rahmen von Friedhofsführungen oder nach einer Anmeldung bei der Jüdischen Gemeinde. Das haben die Proteste der Anwohner inzwischen bewirkt. Nur sie werden das Recht haben, den Gang zu betreten. Das Eigene, Gewohnte wiegt in diesem Fall schwerer als die öffentliche Auseinandersetzung mit der Geschichte. Die kleingärtnerische Heimeligkeit will man sich nicht nehmen lassen.

Der »Erinnerungsraum«, ein kleiner Ort, an dem jüdisches Leben stattfand und der dazu beitragen könnte, jüdischen Alltag der Vergangenheit zumindest ansatzweise wieder sichtbar zu machen, wird also verschlossen bleiben.