Die Deutsche Minderheit fordert mehr Autonomie

Deutsch als Kennzeichen

Die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien verlangt von der wallonischen Regierung mehr Autonomie.

Einen »Staat im Staate« werde er nicht dulden, empörte sich der Ministerpräsident der belgischen Region Wallonie, Jean-Claude van Cauwenberghe. Die EinwohnerInnen der neun deutschsprachigen Gemeinden an der Grenze zur Bundesrepublik seien zwar »Wallonen, die Deutsch sprechen«. Er könne aber nicht einsehen, dass sie deshalb Sonderrechte bekommen und sich von der Wallonie abspalten müssten.

Van Cauwenberghe reagierte auf eine Resolution, die der Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft (DG) Anfang Juli öffentlich an die Region Wallonie gerichtet hatte und die seitdem für Aufregung sorgt. Die Wallonie ist eine von drei belgischen Regionen, die deutschsprachige Minderheit ist eine der drei Sprachgemeinschaften, die in Belgien anerkannt sind. Die Regionen entsprechen im Prinzip den deutschen Bundesländern, haben aber weiter gehende Kompetenzen. Die Sprachgemeinschaften - neben der deutschen gibt es die französische und die flämische - besitzen ebenfalls bestimmte Hoheitsrechte. Sie haben eigene Parlamente und sind zuständig für Kultur und Bildung sowie für einige Bereiche der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik.

Den deutschsprachigen Wallonen genügt das nicht mehr. Ihr Parlament, der Rat der Deutschsprachigen Gemeinschaft, verlangt zusätzliche Befugnisse. Ende des vergangenen Jahres einigten sich alle Fraktionen des Rates, »den Weg einer schrittweisen Erweiterung unserer Autonomie zu gehen und die Übertragung eines kohärenten Paketes an Zuständigkeiten zu fordern«. Die Region Wallonie soll in den deutschsprachigen Gemeinden die Hoheit über die Kommunalverwaltung, die Raumordnung, den Wohnungs- und den Straßenbau sowie die Agrarpolitik aufgeben und sie der Regierung der deutschen Minderheit überlassen.

Für internationales Aufsehen sorgte diese Regierung während der sommerlichen Hauptreisezeit. Sie verteilte an alle Haushalte ihrer Gemeinden einen Aufkleber, der von den gebräuchlichen ovalen Nationalitätenkennzeichen kaum zu unterscheiden ist. Er zeigte aber nicht das »B«, das für in Belgien zugelassene Autos benötigt wird, sondern die Buchstaben »DG«.

»Wir wollen mit dem Aufkleber unseren Bekanntheitsgrad erhöhen«, erklärte Karl-Heinz Lambertz, der Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft. Im französischsprachigen Teil Belgiens wurde die Aktion völlig zu Recht als separatistisch angesehen.

Die deutschsprachigen Gemeinden mit knapp 70 000 Einwohnern wollen aus der Region Wallonie (3,3 Millionen Einwohner) austreten und gleichberechtigt die vierte Region Belgiens gründen. Lambertz, immerhin kein Mitglied einer fanatischen Splittergruppe, sondern Ministerpräsident einer gewählten Regierung, gibt das offen zu: »Wir sind die vierte Komponente im Föderalstaat neben den Regionen Flandern, Wallonien und Brüssel«, beschreibt er die Situation aus seiner Sicht.

Anfang August verschärfte Lambertz die Debatte mit der Forderung nach einem Referendum. Alle Einwohner der deutschsprachigen Gemeinden, so der Ministerpräsident, sollten darüber abstimmen, ob sie ihre Gemeinschaft zu einer Region aufwerten wollen. Die offene Mobilisierung der deutschsprachigen Bevölkerung gegen die Region Wallonie veranlasste deren Ministerpräsidenten van Cauwenberghe, mit dem Abbruch aller Verhandlungen zu drohen; die belgische Tagespresse sprach von einer ernsten Krise.

Herve Hasquin, der Ministerpräsident der französischsprachigen Gemeinschaft, benannte den vielleicht gefährlichsten Moment der Auseinandersetzung: die nicht kalkulierbaren Auswirkungen auf den flämischen Separatismus. Im wohlhabenden niederländischsprachigen Flandern gibt es seit längerem starke Bestrebungen, sich von der ärmeren Wallonie abzusondern und den Bestand des belgischen Bundesstaates in Frage zu stellen.

Sollte die Situation irgendwann eskalieren, wäre es für die Deutschsprachige Gemeinschaft durchaus von Vorteil, nicht länger ein Teil der Wallonie zu sein. In einem zerfallenden Belgien könnte die Region um die deutschsprachigen Zentren Eupen und Sankt Vith, die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs schon einmal zum Deutschen Reich gehörten, eigenständig über ihre Zukunft bestimmen.

Aber selbst Lambertz hält wenig von einem Anschluss der neun deutschsprachigen Gemeinden Belgiens an die Bundesrepublik: »Wir wären ein kleiner ländlicher Teil im Westen eines von Berlin aus regierten Landes. Außerdem wäre für mich die Chance wesentlich kleiner, Ministerpräsident zu werden.«

Die Deutschsprachige Gemeinschaft ist daher darum bemüht, ihre eigene Rolle aufzuwerten. Die Wirtschaft soll die Gemeinden, deren ökonomische Lage sich jetzt schon positiv von den meisten anderen Regionen der Wallonie abhebt, weiter stärken. Zu diesem Zweck haben die Behörden die »Wirtschaftsförderungsgesellschaft Ostbelgien« gegründet, die »zum Ausbau Ostbelgiens hin zu einem idealen und wettbewerbsfähigen Standort für Industrie, Handel und Gewerbe beitragen« soll. Der besondere Vorteil ist hierbei die »Scharnierfunktion zwischen der Region Wallonie und der deutschsprachigen Welt«, so Marc Langohr, der Direktor der in Eupen ansässigen Wirtschaftsförderungsgesellschaft.

Der Begriff »Scharnierfunktion« bedeutet dabei vor allem, Investitionen aus Deutschland anzulocken, um die Wirtschaftskraft zu steigern. Ende Juni lud die Wirtschaftsförderungsgesellschaft Ostbelgien in Zusammenarbeit mit der Industrie- und Handelskammer Aachen deutsche »Jungunternehmer« und »Gründungswillige« zu Gesprächen über mögliche Investitionen in Belgien ein und stellte ihnen sogar »Starterdarlehen« in Aussicht.

In den nächsten Wochen werden die Ministerpräsidenten der Deutschsprachigen Gemeinschaft und der Region Wallonie, beide sind Sozialdemokraten, die Verhandlungen über eine erweiterte Autonomie weiterführen. Van Cauwenberghe deutete bereits einen Verzicht der Wallonie auf die Kommunalverwaltung an. Gegenüber allen weiteren Forderungen will er zunächst hart bleiben. »Wir haben gelernt, Geduld zu haben«, erklärte Lambertz dazu. Derzeit ist er schließlich noch ein wallonischer Bürger, der Deutsch spricht.