Vor dem Gipfeltreffen der Nato in Prag

Eine Allianz fürs Leben

Auf dem Gipfeltreffen der Nato in Prag geht es um die Aufnahme von sieben osteuropäischen Staaten und um die Zukunft des Bündnisses.

Der britische Nato-Generalsekretär Lord George Robertson ist offenbar ein Freund biblischer Vergleiche. Auf einer Vorbereitungskonferenz für das Gipfeltreffen, das am 21. und 22. November in Prag stattfinden kann, meinte er kürzlich: »Die internationale Gemeinschaft erwartet schlechtes Wetter, daher muss der Tagungsort des Nato-Gipfels Sicherheit vom Stile der Arche Noah bieten.«

Die Bewohner Prags wird der Vergleich angesichts der Flutkatastrophe vom Spätsommer vermutlich nicht übermäßig erheitern. Denn wenn die erwarteten 3 000 Politiker, darunter 43 Staats- und Regierungschefs inklusive des US-Präsidenten Georg W. Bush, nach Prag kommen, wird die Stadt voraussichtlich für mindestens drei Tage völlig lahm gelegt werden. Nach Angaben der tschechischen Regierung sollen 15 000 Polizisten und Soldaten die Gipfelteilnehmer schützen. Auch die Grenzen, die Atomkraftwerke und andere sensible Einrichtungen werden intensiv überwacht.

Schon jetzt haben Organisationen und Gruppen aus ganz Europa zum Gipfelsturm aufgerufen. Die Proteste sollen bereits am 17. November beginnen, am ersten Tag des Kongresses ist eine Großdemonstration geplant. Zusätzlich zu den Aktionen in Prag soll es Kundgebungen an den Grenzenübergängen nach Polen, Deutschland und Slowenien geben, wo sich alle versammeln können, denen die Einreise verweigert wird.

Der tschechische Ministerpräsident Vaclav Havel warnte in der vergangenen Woche die Medien des Landes davor, ein zu düsteres Bild von den erwarteten Protesten zu zeichnen. In zahlreichen Artikeln werden bereits bürgerkriegsähnliche Unruhen prophezeit, und es wird an die Straßenschlachten anlässlich der IWF- und Weltbanktagung im September vor zwei Jahren erinnert.

Dabei sind die Gipfelgegner in der tschechischen Hauptstadt für die Nato noch das kleinste Probleme angesichts der Themen, die auf dem Treffen besprochen werden sollen. Neben der geplanten Erweiterung um voraussichtlich sieben osteuropäische Staaten geht es vor allem um die Schaffung einer neuen Eingreiftruppe und um die künftigen Aufgaben des Bündnisses, also um die Substanz der Nato.

Denn spätestens wenn Slowenien, die Slowakei, Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen und Rumänien beigetreten sind, wird die Allianz ihre geopolitische Ausrichtung endgültig überdenken müssen. Die Nato soll sich zur Task Force gegen jene neuen Bedrohungen entwickeln, die aus den so genannten »asymmetrischen Kriegen« erwachsen. Nach ihrer Ost-Erweiterung wird das Militärbündnis mit 26 Mitgliedern kaum noch zu steuern sein. Schon jetzt ist es wegen der völlig unterschiedlichen militärischen Kapazitäten nicht mehr in der Lage, größere militärische Aktionen zu koordinieren.

Abgesehen von den enormen finanziellen Belastungen für Staaten wie Rumänien oder Bulgarien, die ihre maroden Militärapparate aufwendig modernisieren müssen, könnte die Erweiterung die Nato in zwei unterschiedliche Gruppen spalten. Die neuen Mitglieder, die militärisch und wirtschaftlich schwach sind, werden besonderen Eifer an den Tag legen, wenn die USA Beistand fordern. Bei den älteren europäischen Mitglieder hält sich hingegen die Begeisterung für das Bündnis schon seit längerem in Grenzen.

So hat Rumänien schon im Frühjahr seine besondere Rolle definiert. »Wir werden zur Südflanke der Nato im Kampf gegen den Terror«, sagte damals der Ministerpräsident Adrian Nastase. Diese Beteuerung ist zwar angesichts der Erkenntnis, dass sich terroristische Aktivitäten schon längst nicht mehr auf bestimmte Territorien beschränken lassen, wenig hilfreich, die USA aber honorieren solche Aussagen. Gerade jene neuen Mitglieder, die vom Rest der Nato und besonders von den USA als schwache Partner eingestuft werden, werden sich in Zukunft besonders mit Gefälligkeiten hervortun.

Ein kleines Vorspiel der transatlantischen Arbeitsteilung lieferte Rumänien im Sommer dieses Jahres. Die Regierung unterzeichnete einen Vertrag mit den USA, der deren Staatsbürgern Immunität verleiht, wenn sie auf rumänischem Boden Verbrechen verüben sollten, die vom neuen Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag zu ahnden wären.

Die EU kritisierte das Abkommen heftig und zeigte damit, welche diplomatischen Schwierigkeiten vom Erweiterungsprozess zu erwarten sind. In einer erweiterten Nato wird das Gewicht der USA noch zunehmen, und die Interessenskonfikte zwischen der Allianz und der EU werden sich verschärfen. »Es ist nicht angebracht, die EU-Beitrittskandidaten in ihren außenpolitischen Entscheidungen zu kritisieren«, meinte damals ein Sprecher des US-Außenministeriums angesichts der europäischen Rüge.

Beschleunigt wird diese Entwicklung auch vom Willen der EU, sich mit der Integration auch militärisch als Machtfaktor zu profilieren. Sie plant derzeit, eine schnelle Eingreiftruppe mit 60 000 Soldaten aufzubauen.

Doch eine ähnliche Idee hat auch die Allianz, die bis zum Jahr 2006 eine so genannte Rapid Reaction Force mit 21 000 Mann schaffen möchte. Innerhalb weniger Tage soll die neue Truppe überall auf der Welt zum Einsatz kommen können. Ihre potenziellen Missionen sind Kampfeinsätze mit kurzem Vorlauf und Evakuierungen in Krisengebieten. Und sie soll, anders als die schnelle Eingreiftruppe der EU, keine Stabilisierungs- und Krisenmanagementaufgaben wahrnehmen, sondern eine reine Kampftruppe sein. Zeichnet sich ein Konsens über die neue Nato-Einheit ab, könnte ihre Bildung beim Gipfel in Prag Ende November beschlossen werden.

Doch obgleich schon 1999 ein Vertrag zwischen der Nato und der EU geschlossen wurde, der den Aufbau einer solchen Einheit vorsieht, haben die Europäer bislang recht wenig getan, um den Wunsch aus Washington zu erfüllen. »Ohne diese Truppe hätte die Nato im 21. Jahrhundert recht wenig zu bieten«, kritisierte der US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vor wenigen Wochen bei einem Nato-Treffen in Warschau.

Tatsächlich könnte die Einheit, die hauptsächlich aus europäischen Verbänden zusammengesetzt sein soll, in Zukunft eine der wesentlichen Aufgaben des Bündnisses übernehmen: die Intervention in Krisengebieten, ähnlich wie im vergangenen Jahr in Afghanistan. Damit wollen die Vereinigten Staaten eine abermalige Pleite wie nach den Anschlägen vom 11. September vermeiden. Damals wurde zwar der Bündnisfall ausgerufen, ein einmaliger Akt in der Geschichte der Nato. Doch anschließend passierte wenig, außer den USA und Großbritannien verfügt schließlich kein anderes Mitgliedsland über entsprechende militärische Kapazitäten, um die Ankündigungen auch zu verwirklichen.

Die Europäer stehen vor einem heiklen Problem. Lehnen sie die neue Einheit ab, käme das einer Absage an das Bündnis gleich. Stimmen sie zu, müssten sie wesentliche Teile ihrer Schnellen Eingreiftruppe künftig der Nato unterstellen. Eine von der USA unabhängige Militärpolitik, wie sie den Europäern eigentlich vorschwebt, wäre dann kaum mehr möglich. Sie fürchten, zu Zuschauern im von den USA geführten »Krieg gegen den Terror« zu werden.

Die großen Kriege werden die USA in Zukunft ohnehin alleine führen, allenfalls greifen sie auf die bescheidene Unterstützung der noch nicht in der EU befindlichen Nato-Mitglieder zurück. Dazu gehört auch der mögliche Einsatz gegen den Irak. Die USA hätten noch nicht nach den Ressourcen der Nato in Zusammenhang mit dem Irak gefragt, bestätigte George Robertson erst vor kurzem.