Herrenanzug gegen Tracht

Wie der deutsche Kolonialismus in Berlin geplant wurde und welche Spuren er in der Stadt hinterlassen hat, beschreibt das Buch »Kolonialmetropole Berlin«. von anke schwarzer

London, Paris, Madrid haben sie schon längst. Auch für die deutschen Städte Nürnberg, Osnabrück, Bremen und Hamburg liegen Bücher vor, die sich mit den lokalen Zeugnissen der kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen. Für Berlin jedoch fehlte bis dato eine solche Publikation. Der Band »Kolonialmetropole Berlin« schließt nun endlich diese offenkundige Lücke. Er beleuchtet detailliert die Rolle der Reichshauptstadt, die 1884 mit der »zweiten Reichsgründung in Übersee« zum Zentrum des wilhelminischen Kolonialimperialismus wurde.

In Berlin tagte nicht nur die Afrika-Konferenz von 1884/85, in der Stadt hatte auch das Oberkommando der Schutztruppen, die Zentrale des deutschen Kolonialmilitärs, ihren Sitz. Die Deutsche Kolonialgesellschaft und andere Lobbyisten für die so genannten Schutzgebiete tummelten sich in der Reichshauptstadt, ebenso wie Kolonialwarenfirmen, Afrikaforscher und Missionsgesellschaften.

Die Zeitspanne, mit der sich die Beiträge befassen, erstreckt sich von den ersten kurbrandenburgischen Kolonisationsversuchen am Ende des 17. Jahrhunderts über die Überseeherrschaft zwischen 1884 und 1918 bis zum Kolonialrevisionismus während der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Den beiden Historikern Ulrich van der Heyden und Joachim Zeller ist es gelungen, in dem Buch eine Fülle von verschiedenen Aspekten zu diesem Thema zu versammeln. Die facettenreichen Beiträge, gespickt mit zum Teil erstmals veröffentlichten Fotodokumenten und belegt mit zahlreichen Quellenangaben, werden anschaulich präsentiert, ohne an Tiefe und Ernsthaftigkeit zu verlieren.

Nicht geeignet ist das Buch als Stadtführer, den man bei einem Rundgang in die Tasche stecken kann. Dafür wäre der dicke Wälzer auch zu schwer. Die Autoren haben keine Routen durch die Stadt konzipiert, sondern sie stellten den Dokumentationen zu Berliner Straßen und Gebäuden mit kolonialer Vergangenheit zeitgenössische Diskurse zur Seite. So finden sich zum Beispiel Ausführungen zu den Kolonialdebatten im Deutschen Reichstag, insbesondere zu der dreitägigen Diskussion im Mai 1912 über die so genannten Mischehen, die für die Konstruktion der »weißen Rasse« und die Kriterien dessen, was »echte Deutsche« ausmacht, äußerst bedeutsam war. In jenen Jahren wurden politische, juristische und intellektuelle Kategorien für die spätere »Rassenordnung« entwickelt.

Die Autoren haben aber nicht nur die großen Institutionen des deutschen Kolonialismus im Blick. In kleinen Anekdoten wird über die Mohrenstraße und die Entstehung des afrikanischen Viertels im Wedding berichtet, über die Erfindung des Sarotti-Mohren und über die Arbeiten von Malern und Bildhauern im Dienste der Kolonialidee.

Besonders hervorzuheben ist auch die Spurensuche in verschiedenen Berliner Museen und wissenschaftlichen Instituten, weil dadurch Dinge beleuchtet werden, die im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln liegen. Im Keller der Berliner Charité beispielsweise lagern heute in meterhohen Regalen mehrere hundert Schädel, die deutsche Forscher, Abenteurer und Militärs von ihren Eroberungszügen aus den damaligen Kolonien mitgebracht hatten und die der Arzt und Anthropologe Rudolf Virchow für seine »rassetheoretischen Untersuchungen« vermaß.

Ein anderes Kapitel widmet sich der afrikanischen Diaspora in der Reichshauptstadt: Es erzählt von Amur bin Nasur il Omeiri, der 1891 nach Berlin kam, um als Lektor der Suaheli-Sprache am Seminar für Orientalische Sprachen zu arbeiten, und von Friedrich Maharero aus »Deutsch-Südwest«, der für eine Völkerschau nach Deutschland gebracht wurde, sich aber weigerte, seinen Herrenanzug gegen eine »Herero-Tracht« zu tauschen. Quame a Didobe aus Kamerun war bei den Berliner Verkehrsbetrieben als Zugführer auf der U-Bahnlinie 1 angestellt, und Mohamed Husen schlug sich als Kellner, Sprachlehrer und Statist in Kolonialfilmen durch – bis ihn die Nationalsozialisten in das Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppten, wo er nach drei Jahren Haft starb.

Die unterschiedlichen Biographien zeigen das Koordinatensystem auf, in dem sich Schwarze aus Afrika und Ozeanien bewegten – damals offiziell als »schwarze Landsleute der Deutschen« oder »deutsche Neger« bezeichnet. Ungeachtet ihrer zum Teil gehobenen Stellungen als Wissenschaftler oder potenzielle Vermittler der deutschen Herrschaft in den Kolonien, wurden sie aber auch immer wieder zu Repräsentanten »ethnokultureller« oder »rassischer« Differenz gemacht, sei es in der öffentlichen Zurschaustellung bei Volksfesten oder in anthropologischen Untersuchungen.

Wie viele Migranten aus den Kolonien sich tatsächlich im Deutschen Reich aufhielten, ist nicht mehr zu ermitteln. In Archiven erfasst sind lediglich rund 500 Menschen aus Afrika und Ozeanien sowie deren Nachkommen, die sich zwischen 1885 und 1945 im Deutschen Reich aufhielten. Mit dem Beginn der Kolonialherrschaft verliehen die deutschen Behörden einem Teil der Migranten die deutsche Staatsbürgerschaft. Dafür wollte man sie »erziehen« und ihnen einen Beruf beibringen.

Nach der Jahrhundertwende änderte sich die offizielle Haltung: Ausbildungsprogramme wurden gestoppt, der Zuzug wurde begrenzt. Die Politik der Akkulturation wandelte sich in eine, die die »rassischen Differenzen« betonte. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, als das Deutsche Reich alle Kolonien verloren hatte, zogen immer weniger Migranten aus Afrika und Ozeanien nach Deutschland. Die Verbliebenen wurden formal zu »kolonialen Untertanen« der neuen Mandatsmächte Frankreich, Großbritannien und Australien. Ab 1933 planten die Behörden mehrere »rassepolitischen Maßnahmen«: Um die Migranten, aber auch deren Nachkommen und deutsche Schwarze, noch stärker von der »arischen« Bevölkerung abzuschirmen, sollten sie ghettoisiert werden und als »Afrikaner« in Völkerschauen auftreten. Das Projekt scheiterte weitgehend. Neben den alltäglichen Schikanen kam es nun zu Zwangssterilisationen und zu strafrechtlichen Verfolgungen wegen des Tatbestandes der »Rassenschande«, für den die Todesstrafe verhängt wurde. Ob in den Behörden Pläne für eine systematische Vernichtung aus »rassischen« Gründen kursierten, ist noch offen. Dokumente, die eine solche Annahme stützen würden, sind offenbar bislang nicht bekannt.

In dem Buch, das den Blick auf eine der kolonialen Metropolen richtet, wird nicht nur analysiert, wie sich der koloniale Imperialismus auf die kolonisierten, sondern auch wie er sich auf die kolonisierenden Gesellschaften und Individuen auswirkte. Damit vertiefen die Autoren einen Ansatz der post-colonial studies. Sie haben den Anspruch, eine kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit Berlins und den rassistischen Denk- und Verhaltensweisen sowie den dominanten Afrikabildern der bundesdeutschen Gesellschaft anzustoßen.

Ulrich van der Heyden und Joachim Zeller (Hg.): Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche. Quintessenz Verlag, Berlin Edition, Berlin 2002, 320 S., 170 Abbildungen, 24,80 Euro