Es geht um Initiative, nicht um Kontrolle

Roland Denis über den Traum einer anderen Welt in Venezuela | Interview Raul Zelik

In Venezuela unterstützen die Barriobewegungen die Regierung von Präsident Chávez. Der ehemalige Vizeplanungsminister Roland Denis spricht über die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung und ihre Blockaden, über soziale Avantgarden und konstituierende Macht.

Planungsminister Felipe Pérez und Sie sind vor kurzem aus dem Ministerium abberufen worden. Sie traten für eine Politik ein, die Lokalmacht und Selbstverwaltung zu stärken versucht. Ministerwechsel sind unter Präsident Hugo Chávez nichts Ungewöhnliches, selten ist ein Minister länger als zehn Monate im Amt. Bedeutet Ihre Abberufung trotzdem einen Richtungswechsel?

Weniger einen Richtungswechsel als das Fehlen einer Richtung. Zu den Prinzipien der bolivarianischen Revolution gehören eine partizipative Demokratie, der Kampf für eine multipolare Welt, der Widerstand gegen die Wirtschaftsimperien und die Förderung einer alternativen Wirtschaft. Felipe Pérez und ich haben uns darum bemüht, die soziale Kontrolle zu vergrößern, den Communities also jene Macht in die Hand zu geben, die nötig ist, um neue Beziehungen zum Staat zu entwickeln, Beziehungen der Mitregierung, wenn man so will.

Diese Ansätze haben den Widerstand bestehender Institutionen provoziert, also jenes »alten« Staats, der trotz der Veränderung in Venezuela fortbesteht. Es gibt kein konkretes Konzept der Regierung Chávez, wie man die bürokratischen und wirtschaftlichen Interessen im existierenden Staat entmachten könnte.

Wie muss man sich diese Auseinandersetzungen vorstellen? Sind das politische Konflikte zwischen der Linken und der Rechten oder handelt es sich einfach um Kämpfe zwischen Seilschaften, die sich Ämter streitig machen?

Staaten sind immer Schauplätze von Hegemoniekämpfen. Die gesellschaftlichen Kräfte versuchen permanent, ihre Interessen geltend zu machen.

Der venezolanische Staat befindet sich seit dem rechten Putschversuch vom 11. April 2002 in einer Art Blockade. Während sich die revolutionären Bewegungen in jenen Tagen unglaublich weiterentwickelt haben – es waren die Basisorganisationen, die die eintägige Diktatur von Unternehmerverbandschef Pedro Carmona beendeten –, hat der Staat eine eher konservative Haltung eingenommen. Chávez hat, was ich für einen seiner größten Fehler halte, im April 2002 den Dialog mit der putschistischen Opposition gesucht und Zugeständnisse gemacht. Im Dezember 2002, als die Opposition mit Aussperrungen und Sabotage zum zweiten Mal die Industrie lahm legte, musste sich die Regierung erneut radikalisieren. Allerdings auch in diesem Fall nicht aufgrund einer eigenen Entscheidung, denn auch dieser Umsturzversuch wurde von den Basisorganisationen verhindert.

Der Staat kommt aus dieser Blockade nicht heraus. Es gibt keine konkreten Konzepte für die Entwicklung, für die Landwirtschaft und Industrie, für eine selbstständigere Position gegenüber Weltbank und IWF. Man hantiert mit Allgemeinplätzen: Man spricht von endogener Entwicklung und bekennt sich zum Kooperativwesen. Doch vor der Umsetzung dieser Ideen in konkrete Politik hat man Angst, denn man weiß, dass eine andere Wirtschaftspolitik die Gesellschaft grundlegend verändern wird.

Womit hat das zu tun? Mit den alten Bürokraten, die immer noch 95 Prozent des Behördenapparats ausmachen, den Konzepten der alten Linken oder dem Einfluss der Militärs?

Die Dinge vermischen sich. Da gibt es die Tradition des venezolanischen Staates und seines Parteiensystems, da sind die Militärs, da gibt es die alte Linke mit ihrem leninistischen Konzept von Staatsmacht, Avantgarde und vertikaler Kontrolle. Unsere Verfassung schreibt die partizipative Demokratie fest – eine Demokratie, in der die Communities eine Protagonistenrolle haben. Und wenn es für mich eine Folgerung meiner Zeit als Minister gibt, dann die, dass Selbstregierung, ein anderes Verhältnis zwischen Staat und Selbstorganisation möglich sind. Es gab unglaubliche Erfahrungen, gesellschaftliche Diskussionen um die Verwendung des Finanzhaushaltes und die Entwicklung von konkreten Projekten.

Die politischen Verhältnisse in Venezuela sind schwer einzuschätzen. In Kolumbien gibt es historische Referenzpunkte – die Guerillaorganisationen haben nach wie vor großen Einfluss auf die sozialen Bewegungen. Hier scheint es hingegen keine organischen Strukturen der Linken zu geben.

Venezuela kann man in dieser Hinsicht tatsächlich nicht mit Kolumbien vergleichen. Die traditionellen politischen Organisationen haben sich hier völlig aufgelöst. Die Guerillagruppen der sechziger und siebziger Jahre wurden aufgerieben. Auf der anderen Seite sind auch die Referenzpunkte der politischen Rechten zerfallen.

In allen lateinamerikanischen Ländern ist der Staat ein Instrument der Besitzenden, um die Kapitalakkumulation sicherzustellen. In Venezuela wurde der Staat selbst zum Ort privatkapitalistischer Akkumulation, denn die einzige echte Einkommensquelle des Landes ist die Erdölrente. Alle, die sich im Staat bewegten – Gewerkschaften, politische Parteien der Rechten, die reformistische Linke –, sind daran kaputt gegangen. Sie wurden zu einem Bestandteil des Akkumulationsmechanismus.

Wir haben in den Siebzigern über neue Wege der Transformation zu diskutieren begonnen. Wir haben uns von den Konzepten bewaffneter Avantgarden verabschiedet. Der einzig gangbare Ausweg schien uns ein massiver Aufstand, der allerdings von Kräften im System mitgetragen werden musste, die die Machtverhältnisse grundlegend verändern konnten. Das waren die Militärs. Wir haben ein Bündnis mit Akteuren innerhalb des Staates aufgebaut, die diesen Staat zerschlagen wollten. Dieses Konzept ist schließlich mit dem gegen das Sparpaket der Regierung Pérez gerichteten Aufstand im Februar 1989 und den beiden Umsturzversuchen progressiver Militärs im Februar und November 1992 Realität geworden.

Die in dieser Phase entstandenen Subjekte haben nichts mit den politischen Akteuren gemein, die man in den verfassten Formen westlicher Gesellschaften kennt: keine Parteien oder Verbände. Die Akteure finden sich in den Stadtteilen und Dörfern. Wir nennen das Proceso Popular Constituyente, den von der Bevölkerung getragenen Verfassungsprozess. Wir haben uns nicht darauf konzentriert, Organisationen aufzubauen. Man kann den venezolanischen Prozess mit klassischen politischen Kategorien, die von organisierten, um die Macht kämpfenden Minderheiten der Linken und der Rechten ausgehen, kaum beschreiben.

Die Parteien des Patriotischen Pols, wie die Regierungskoalition genannt wird, also die Chávez nahe stehende MVR (Bewegung 5. Republik), die aus der Gewerkschaftsbewegung hervorgegangene PPT (Vaterland für alle) und die linkssozialdemokratische Podemos (Wir können), spielen also keine Rolle?

Als mobilisierende Apparate vielleicht. Aber das Fehlen einer inhaltlichen Linie dieser Parteien ist für das Dilemma der Regierung verantwortlich. Die Gruppen repräsentieren nicht in erster Linie politische Projekte. Chávez hat versucht, die Forderungen der Massenrevolte aufzugreifen und gleichzeitig die realen Verhältnisse im Staat zu berücksichtigen. Aber trotzdem muss man darauf hinweisen, dass der venezolanische Staat noch der alte ist. Ein Ort privater Akkumulation, wo politische Parteien nicht um ideologische Hegemonie, sondern um Posten kämpfen. Die Parteien der Regierungskoalition spielen dieses Spiel nach wie vor mit, was natürlich im Widerspruch zum bolivarianischen Projekt steht. Es gibt hier drei parallele Welten: einen revolutionären Prozess, der von Bewegungen getragen wird, eine Regierung, die meistens nicht eindeutig Position bezieht, und schließlich eine rechte Opposition der Kapitalbesitzer und der von ihnen ideologisch kontrollierten Mittelschichten.

Gibt es dennoch einen tiefgreifenden Transformationsprozess?

Auf jeden Fall. Es gibt einen Prozess der Basisorganisierung, der in dieser Form in der Welt noch nicht zu beobachten war. Es zeichnen sich wichtige Ansätze für eine Kooperativ- und Solidarökonomie ab. An verschiedenen Orten konstituieren sich Räume partizipativer Demokratie. All das hat es in anderen Revolutionen und Reformprozessen so noch nicht gegeben. Es ist ein Konstitutionsprozess. Die Regierung ist nicht Avantgarde des Projekts, und deswegen reicht der Prozess auch über die Chávez-Regierung hinaus.

Was müsste geschehen, um den Prozess zu radikalisieren? Welche Schritte müsste die Regierung ergreifen?

Ich habe eigentlich nur zwei Forderungen an den Staat: Dass er die Effizienz seiner Verwaltung gewährleistet und gegen die Korruption vorgeht, und dass er weiterhin als Schutz vor den faschistischen Kräften fungiert. Den Rest können wir selbst erledigen. Der Aufbau einer neuen Gesellschaft wird schließlich nicht per Dekret verordnet. Es gibt heute Programme, die von den Communities gegen den Widerstand staatlicher Stellen entwickelt worden sind.

Wir haben die Regierung und die Person Chávez verteidigt und werden das auch weiterhin tun, weil sie einen Schutz darstellen. Aber das heißt nicht, dass wir mit ihnen in jeder Hinsicht übereinstimmen. Die Regierung hat nicht nur die Rechte gestoppt, sondern oft auch die Basisbewegungen und den sozialen Prozess. Als »Revolution in der Revolution« würden wir bezeichnen, wenn die Regierung tatsächlich anfinge, mit den Massen zu regieren.

Würden Sie Venezuela als Beleg dafür sehen, dass politische Avantgarden überhaupt unnötig sind?

Ich glaube, kollektive Avantgarden sind notwendig. Soziale Avantgarden, die sich nicht über Machtpositionen definieren. Du bist Avantgarde, sobald deine Handlungen anderen als Referenz dienen. Wenn eine Gruppe in einer Nachbarschaft eine Barrioversammlung etabliert, deren Modell dann in anderen Nachbarschaften kopiert wird, hat sie eine Avantgarderolle inne. Das Modell multipliziert sich, weil es funktioniert, weil die Asamblea dem Barrio hilft, sich zu artikulieren. Es geht also um Initiative, nicht um Kontrolle.

Aber können Versammlungsstrukturen in Stadtteilen politische Organisierung ersetzen? In Venezuela gibt es keine solche Organisation. Es gibt Gruppen, aber kein übergreifendes Projekt.

Das stimmt. Es gibt jedoch ein Element, das die unmittelbaren Organisationsformen zusammenhält und bündelt: die Person Chávez’. Er repräsentiert nicht die Avantgarde, sondern den massenhaften Charakter dieser Bewegung. Wir haben Anfang der neunziger Jahre davon gesprochen, dass es nicht darum geht, organische Strukturen aufzubauen, sondern Hegemonie: Bereiche, in denen Konzepte hegemonial werden. Mit diesem Ansatz haben viele gearbeitet: Bauern- und Arbeiterbewegungen, pädagogische, kulturelle, soziale Netzwerke und Kooperativen. Dabei gibt es natürlich Aspekte, die wir zentralisieren sollten; die sich gemeinsam besser verwalten ließen. Aber als hegemoniales Feld dehnt sich die Bewegung dennoch mit großer Energie aus.

Das Problem sind nicht allein die guten Ideen. Was das Konzept des Poder Popular angeht, verdanken wir den Kolumbianern sehr viel. In Venezuela sind jedoch Massenbewegungen entstanden, sie sind zu einer politischen Praxis geworden, und Hugo Chávez interessanterweise zu ihrem Sprecher. Ich glaube, dass Chávez über diese Konzepte nicht viel weiß. Aber die Massenbewegung hat die Inhalte an ihn herangetragen, und weil er weiß, dass er mit dieser neuen Hegemonie, mit diesem Traum einer anderen Welt leben muss, verbreitet er sie.

Das alles würde ich als großen zivilisatorischen und kulturellen Triumph bezeichnen. In Venezuela hat sich gezeigt, dass ein sozialer Prozess auch ohne organische Avantgarden in Gang gesetzt werden kann – vielleicht sogar viel erfolgreicher. Und dass Netzwerke und Bewegungen die klassischen Organisationen ersetzen können.

Roland Denis, Philosoph und politischer Aktivist, gehörte der radikalen Basisbewegung Desobediencia Popular an. 1989 wurde er nach dem »Caracazo«, der Revolte der Barriobewohner von Caracas gegen den Internationalen Währungsfonds, festgenommen und gefoltert. 2002 und 2003 war er Vizeplanungsminister der Regierung Chávez.