Gestorben muss sein

Jan Philipp Reemtsma befragt die Literaturgeschichte nach den Ursachen von Gewalt und Krieg. von jan süselbeck

Rund sechs Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs schrieb Sigmund Freud einen Essay mit dem Titel »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«. Der Text beschäftigt sich mit der enttäuschenden Tatsache, dass die zivilisierte‚ westliche Kultur einen neuen Krieg entfesselt hatte, der alle bisher dagewesenen Gewaltexplosionen in den Schatten stellte. Die Illusion, dass die europäischen »Kulturnationen« auf dem Prinzip der Triebkontrolle fußten und die Zeiten grausamer Exzesse endgültig überwunden hätten, war ein für allemal zerschlagen. Jedoch: »In Wirklichkeit sind sie nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wir’s von ihnen glaubten«, wie Freud bemerkt.

Ab 1933 nahm dann ein ungleich größeres Verbrechen seinen Lauf, dessen totale Eskalation nach 1939 sich der Vater der Psychoanalyse 1915 nicht im Traume hätte ausmalen können. Diesmal zerstörte das Land der »Dichter und Denker« die europäische Kultur gründlicher. Das führte Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1944 in ihrer »Dialektik der Aufklärung« zur erneuten Erörterung der Frage, »warum die Menscheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine Art von Barbarei versinkt«.

Dieses Problem beschäftigt auch Jan Philipp Reemtsma in seiner neuen Aufsatzsammlung mit dem Untertitel »Unzeitgemäßes über Krieg und Tod«. Der rote Faden seiner philologischen, philosophischen und historischen Interpretationen ist die Frage nach den Ursachen der Gewalt in der Geschichte. Viele der untersuchten Texte seien »in einem außerliterarischen Sinn gänzlich unaktuell«, jedoch der Verdeutlichung extremer Gewalt in der Moderne dienlich, schreibt er im Vorwort: »Man mag bezweifeln, ob der gesellschaftliche Nutzen solcher intellektueller Tätigkeit sehr groß ist. Dem Zweifel sei entgegengehalten, dass die Gewalt sprachlos ist und macht. Solange man über Gewalt nachdenkt und spricht, beherrscht sie das Terrain nicht.«

Im ersten Beitrag, der Betrachtung des 24. Gesangs der »Odyssee« Homers, geht es um ein Phänomen, das auch im 20. Jahrhundert viel Unheil angerichtet hat: »Eine Kriegeraristokratie verbraucht sich in einem Krieg, der außer Kontrolle gerät, der, wie viele Kriege nach ihm, dadurch gekennzeichnet ist, dass die an ihm Beteiligten nicht mehr aufhören können.« König Odysseus metzelt, nach jahrelanger Irrfahrt zurückgekehrt, die gesamte daheimgebliebene Elite seines Landes nieder. Die hat es sich in seiner Abwesenheit im Palast gemütlich gemacht, um das Leben zu genießen und Königin Penelope zur abermaligen Heirat zu bewegen. Am Ende, nach dem Racheakt Odysseus’, der seine Machtstellung behaupten wollte, »steht das, was die Archäologie kennt: verlassene, zum Teil zerstörte und niedergebrannte Adelssitze, ein kultureller Zusammenbruch, von dem sich Griechenland erst nach langer Zeit wieder erholt« – Männerphantasien in der Antike, wenn man so will.

Ein weiteres Epos, dem sich Reemtsma zuwendet, ist das Nibelungenlied. Die minutiöse Interpretation diskutiert zwei widerstreitende politische Strategien, die das Zentrum des Textes ausmachen: das konsequente Rachestreben Kriemhilds und Hagens rationale Staatsraison als treuer Vasall der Burgundenkönige. Beide Kontrahenten unterschätzen die Folgen, die ihre durchaus nüchtern angestellten Gewaltkalkulationen zuletzt haben: blutige Exzesse, die keiner der Beteiligten je für möglich gehalten hätte. Bekanntlich hört das Töten im Finale des Epos erst auf, als niemand mehr da ist, den man umbringen könnte. Das Ende des »Nibelungenlieds« ist eine Explosion der Gewalt: »Aber gestorben muss sein«, stellt Reemtsma lapidar fest.

Es ist seine Stärke, die ausgetretenen Pfade der Germanistik zu verlassen, um zu verblüffend neuen Lesarten zu gelangen. Allerdings kann der Weg dorthin, wie etwa im Fall des über hundertseitigen Versuchs, »den Krieg im Werke Kleists zu kommentieren«, auch schon einmal etwas lang geraten. Doch enthält gerade dieser Text einige jener gewagten Exkurse, die die Arbeiten des Vorstands des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) lesenswert machen.

Heinrich von Kleist, den der kürzlich verstorbene Peter Hacks beschuldigt hatte, ein deutscher Agent der englischen Konterrevolution gegen die französische Aufklärung gewesen zu sein, erscheint auch bei Reemtsma als eine Art romantischer Urkämpfer rechtsextremistischer völkischer Antiglobalisierung. Gezeigt wird, dass Kleist ein deutscher Guerilla-Kämpfer der ersten Stunde sein und den Code Napoleon zum Teufel jagen wollte, wie einst Hermann der Cherusker die Kohorten des römischen Imperiums.

»Die ganze Brut, die in den Leib Germaniens / Sich eingefilzt, wie ein Insektenschwarm / Muss durch das Schwert der Rache jetzo sterben«, lässt er den Helden seines politischen Agitationsdramas »Die Herrmannsschlacht« (1808) geifern. Reemtsma schreibt treffend, diese Figur habe »etwas vom Androiden aus Flüssigmetall in ›Terminator 2‹«. Der NS-Chefideologe Alfred Rosenberg knüpfte an die zitierten Zeilen Kleists 1932 die Bemerkung: »Wir wissen, dass heute Juden, Polen und Franzosen die ›ganze Brut‹ ist, die in dem Leib Germaniens sich eingefilzt wie ein Insektenschwarm.«

Reemtsmas Essay beinhaltet eine Erörterung der deutschen Urfaszination für den Partisanenkampf. Kleist habe diese Idee als »nationaler Lehrmeister« unter dem Deckmantel des antiken Historiendramas der »Herrmannsschlacht« für die deutschen Befreiungskriege gegen Napoleon propagieren wollen.

Kleists Herrmann verkörpert damit ein Literatur gewordenes zerstörerisches Prinzip, das im Vernichtungskrieg der nationalsozialistischen Wehrmacht seinen späten, realen Wiedergänger fand. Unter polemischen Seitenhieben auf die verqueren Theorien Carl Schmitts entlarvt Reemtsma die zählebige Behauptung, die deutsche Wehrmacht sei in ihrem Waffengang »Opfer« hinterhältiger Partisanen geworden, als Strategie billiger Selbstlegitimierung. Die Entstehung feindlicher Partisanenverbände sei vielmehr Teil der Eskalationsstrategie der Wehrmacht gewesen. Der wahre Partisan war demnach allein die »deutsche Armee als eine gigantische Ansammlung irregulär Kämpfender ohne Kriegserklärung«.

Zu den bemerkenswerteren Beiträgen des Bandes zählen auch diejenigen, die sich mit dem Problem des Erinnerns und der Unmöglichkeit von Kultur nach Auschwitz auseinander setzen. Sie greifen auf Theodor W. Adornos »Negative Dialektik« und Imre Kertész’ »Roman eines Schicksallosen« zurück.

Reemtsma zeichnet die theoretischen Vorüberlegungen nach, die der ungarische Auschwitzüberlebende Kertész für seinen Roman getroffen hat. Kertész’ Text ist kein autobiographischer Bericht, erzählt jedoch von einem Opfer der Shoah, das eine ähnliche Geschichte durchleben muss wie sein Autor. Das Ich des Romans betrachtet die Deportation und das Leben im Vernichtungslager mit den naiven Augen eines gutgläubigen Kindes. Seine Beschreibungen des unfassbaren Grauens halten an dem Vokabular der Zivilisation fest. Die Entscheidung für diesen erzählerischen Kunstgriff ermöglicht es, die totale Determiniertheit des getilgten Subjekts zu beschreiben, ohne »die totalitäre Schließung der Welt selbst zu vollziehen«, wie es Reemtsma fasst: »Mal wirkt das in diesen Wörtern Präsentierte wie wattiert oder durch milchiges Glas gesehen, manchmal bekommen die Kommentare durch dieses Vokabular eine schmerzliche Schärfe und Präzision.«

So bemerkt das Ich des Romans, als nach der tagelangen Folter der Deportation plötzlich »in der spitzen, schnörkeligen Schrift der Deutschen« der Name »Auschwitz-Birkenau« auf einer Wand zu lesen ist: »Kein Zweifel, wir sind tatsächlich am Ziel. Ich freute mich natürlich, aber, so fühlte ich, anders als ich mich, sagen wir, noch gestern oder eher noch vorgestern gefreut hätte.«

Reemtsmas Buch ist nichts weniger als »unzeitgemäß«. Doch die Texte, die sich darin mit Adornos Gedanken zur Kultur nach Auschwitz beschäftigen, sind vielleicht eher geeignet, »dem zur Sprache verhelfen, was sonst nicht Sprache findet« (Adorno), als die Debattierung krauser germanistischer Zirkelschlüsse über das Nibelungenlied. Sicherlich wird die Gewalt in der Welt das Terrain auch durch unsere geneigte Lektüre einiger Verse Homers so schnell nicht räumen.

Einen gelungenen Abschluss stellt deshalb der letzte Beitrag des Bandes dar, der sich via Shakespeare kritisch mit aktuellen antikolonialistischen Deutungsmustern des Nahostkonfliktes auseinander setzt. Reemtsma argumentiert hier u.a. gegen die modische Tendenz, palästinensische Selbstmordattentate als »nicht primär selbstverantwortliche Taten, sondern als psychologisch verständliche Reaktionsbildungen« darzustellen. Damit schließt sich der Kreis seiner Kritik an den irrationalen Legitimationsdiskursen der Amokläufer. Gleichzeitig ist das die bessere Definition des Kernproblems, dessen Umkreisung dem Band seine inhaltliche Kongruenz verleiht.

Jan Philipp Reemtsma: Warum Hagen Jung-Ortlieb erschlug. Unzeitgemäßes über Krieg und Tod. Beck, München 2003, 300 S., 14,90 Euro