Kurdische Road Map

Die frühere PKK kündigt ihren Waffenstillstand mit der Türkei und will nun an der Seite der USA für die Demokratisierung der Region kämpfen. von udo wolter

Die im vergangenen Jahr in Kurdischer Friedens- und Demokratiekongress (Kadek) umbenannte ehemalige PKK hat am 1. September nach fast vier Jahren ihren einseitigen Waffenstillstand aufgehoben, den der damalige PKK-Chef und heutige Kadek-Vorsitzende Abdullah »Apo« Öcalan im September 1999 nach seiner Inhaftierung auf der Gefängnisinsel Imrali verkündet hatte. Dieser Schritt war bereits im Juli vor allem als Reaktion auf das von der Regierung verabschiedete neue Amnestiegesetz angedroht worden. Darin wurde zwar eine relativ weitgehende Reintegration einfacher Mitglieder der Guerilla in die Gesellschaft in Aussicht gestellt, diese aber wiederum an die Bereitschaft zu aktiver Kollaboration mit den Sicherheitsbehörden geknüpft. Auch sind Öcalan und die gesamte Kaderebene wieder von jeder Aussicht auf Gnade des türkischen Staates ausgeschlossen.

Die Folgen des Irakkrieges wie das gespannte Verhältnis der Türkei zu den USA bilden ebenso den Hintergrund für die jüngsten politischen Wendungen Öcalans und des Kadek wie die innere Entwicklung der Türkei, die zur Zurückdrängung des Einflusses des Militärs tendiert und gewisse kulturelle Rechte für die Kurden umfassende Reformen anstrebt (Jungle World, 34/03). Die Aufkündigung des Waffenstillstandes soll anscheinend auch den Druck auf Ankara erhöhen, auf eine »Road Map für eine friedliche und demokratische Lösung der kurdischen Frage in der Türkei« einzugehen, die Anfang August auf einem Kadek-Kongress verabschiedet wurde, die begriffliche Anlehnung an die Road Map der USA zur Lösung des palästinensisch-israelischen Konflikts ist dabei durchaus gewollt.

Der Kadek hat nun angekündigt, noch bis zum 1. Dezember die Waffen ruhen zu lassen und zu versuchen, die türkische Regierung für eine bilaterale Waffenstillstandsvereinbarung zu gewinnen. Diese entspräche einer ersten Phase der Road Map, in der sich der Kadek auch jeder türkeifeindlichen Propaganda enthalten will. Des Weiteren wird die Auflösung der staatstreuen Kurdenmilizen und der Abzug aller Spezialeinheiten aus der kurdischen Region verlangt sowie eine schließlich auch die Freilassung Öcalans umfassende Generalamnestie. In der Endphase soll die Türkei schließlich ihr politisches System demokratisch erneuern und dabei gar die Anerkennung der kurdischen Identität in der Verfassung festschreiben.

Die vom Kadek und ihrem inhaftierten Vorsitzenden präsentierten Vorschläge basieren auf einigen durchaus bemerkenswerten Neuorientierungen. Dazu gehört die positive Einschätzung der durch die Intervention der USA und ihrer Verbündeten bewirkten Veränderungen der Situation im Nahen Osten. Bereits unmittelbar nach der amerikanischen Einnahme Bagdads wurde vom Kadek-Präsidialratsvorstand begrüßt, dass »im Mittleren Osten eine neue Zeit begonnen« habe, daraus ergäben sich für »das kurdische Volk neue Möglichkeiten zu seiner Befreiung«.

In einer offiziellen Erklärung des jüngsten Kadek-Kongresses heißt es nun, »die globale Dominanz eines Kapitalismus auf neokolonialistischer Basis« sei »in eine Sackgasse geraten. Vor diesem Hintergrund bekommt die mittelöstliche Intervention der USA die Qualität einer externen transformativen Dynamik. Sie wird demokratische Entwicklung unvermeidbar machen, selbst wenn dies auf der Grundlage von Abhängigkeit geschieht.« Die widersprüchlichen kapitalistischen Globalisierungsprozesse würden als Hintergrund dieser Entwicklung insbesondere im mittleren Osten auch positive Effekte wie Chancen auf Demokratisierungsprozesse eröffnen. So spricht sich der Kadek in Statements der letzten Zeit immer wieder für Säkularismus und Demokratisierung aus und wendet sich gegen Nationalismus und Islamismus als reaktionäre Mächte des Status quo. Diese werden in der regionalen Konstellation nach dem Irakkrieg vor allem in einer Allianz zwischen Syrien, Iran und der Türkei ausgemacht, welche die Ziele der USA hintertreibe.

Öcalans Bruder Osman, einflussreiches Mitglied des Kadek-Präsidialrats, erklärte in einer Mitte Juli in Al-Ahram Weekly veröffentlichten Reportage, dass die USA bei ihrer Intervention natürlich ihren eigenen Interessen folgen, »aber es traf ein Ziel, das wir alle teilen«. In diesem Sinn bemüht sich der Kadek nun um einen Dialog mit den USA.

Kein Wunder, dass solche Einschätzungen den Antiamerikanismus hiesiger linker Antiimperialisten reizen. Ein Grund für positive Einschätzungen der neuen Kadek-Linie ist, dass die ehemalige PKK bei ihrem Kongress auch erstmals deutliche Selbstkritik an den eigenen undemokratischen Strukturen geübt hat. »Der Organisation ist es bisher nicht gelungen, demokratisches Denken und einen demokratischen Diskurs im praktischen Leben zu implementieren«, heißt es in der Kongress-Abschlusserklärung. Verantwortlich gemacht wird dafür »die Idee absoluter Führung, wie leninistische Parteistrukturen sie mit sich bringen mit ihrer rigiden Hierarchie, ihrem Begriff von Disziplin, der resultierenden Unersetzlichkeit Einzelner«. Noch vor wenigen Jahren sorgte die PKK für Wirbel in der Soliszene, weil sie die von Öcalan in Imrali ausgerufene neue Linie von »Demokratie und Frieden« auch in Deutschland mittels Schlägerkommandos und massiven Einschüchterungen gegen Abweichler durchsetzte. Doch auch die neuesten politischen Wendungen des Kadek bestehen vor allem in der getreulichen Durchsetzung der von Öcalan auf Imrali ausgegebenen Vorgaben. Bislang scheint der Kadek durchaus noch jenem Parteityp zu entsprechen, bei dem selbst die Abschaffung des Kultes um den Führer nur von diesem selbst verordnet werden kann.

Doch auch bei den von Öcalan und dem Kadek formulierten Visionen für eine demokratische Föderation aller Staaten mit kurdischer Bevölkerung als Kernstück eines Einigungsprozesses der ganzen Region nach EU-Vorbild kann man sich fragen, ob bei aller Nationalismuskritik wirklich der ethnozentrische Kulturalismus der alten Ideologie der PKK ganz überwunden ist. So werden von Osman Öcalan im Interview die Kurden in einer Weise ins Zentrum eines solchen Prozesses gerückt, die schon fast an deutsche Kerneuropa-Ideen erinnert. Dass er dabei auch noch seinen inhaftierten Bruder zu einer demokratisch-friedliebenden Version des mythischen Herrschers Saladin verklärt, trägt ein übriges zu diesen Zweifeln bei. Diese Mischung aus Pragmatismus und von Realitätsverlust mit einer Prise Größenwahn zeugender Großsprecherei zeigt, wie fragwürdig diese Bewegung ist. Bislang sind alle Versuche Öcalans, als kurdischer Mandela Anerkennung auf dem Parkett der internationalen Machtpolitik zu finden, kläglich gescheitert. Auch die Hoffnungen auf die Streichung des Kadek von der Terrorismusliste der USA und die Unterstützung seiner neuen Linie dürften sich kaum erfüllen. Eine weitere Enttäuschung könnte aber bei der Ex-PKK-Guerilla zu einem schlimmen ideologischen Backlash führen. Und dass dies nicht nur terroristische »Belästigungen« für den türkischen Staat, sondern gerade auch für die kurdischen Gesellschaftsverhältnisse in der Türkei weitaus Schlimmeres bedeuten kann, dafür mögen zu völkisch-terroristischen Rackets herabgesunkene Befreiungsbewegungen wie die Eta oder diverse ethnonationalistische Warlord-Banden als abschreckendes Beispiel dienen.

Und in diesem Sinn ist dringend zu wünschen, dass dem Kadek mit seinen neuesten Initiativen und dem daran geknüpften eigenen Transformationsprozess wider alle realistischen Prognosen doch Unterstützung und Erfolg beschieden sein möge. Auch wenn dabei auf lange Sicht nicht viel mehr als zivilgesellschaftlich-ethnokulturalistische Lobbypolitik im Rahmen kapitalistisch-demokratischer Verhältnisse herauskommen dürfte.