Jihad im Kaukasus

Anschlag auf einen Pendlerzug von carlos kunze

Kaum hatte der Pendlerzug den Bahnhof des Ortes Jessentuki verlassen, ging die Bombe hoch. 42 Menschen, großteils Studenten, starben, mehr als 140 mussten ins Krankenhaus gebracht werden.

Die russischen Behörden machten tschetschenische Attentäter – angeblich drei Frauen, von denen zwei noch vor der Explosion aus dem Zug gesprungen sein sollen, und ein Mann – für den Anschlag verantwortlich. Der separatistische tschetschenische Präsident Aslan Maschadow bestritt in einem Kommuniqué jede Verwicklung in das Attentat und unterstrich, er verdamme »jeden Akt der Gewalt, der direkt oder indirekt auf Zivilisten« ziele. Die dpa meldete, ein in Tschetschenien beruflich tätiger Islamisten-Warlord, Abu Walid al-Ghamdi, habe in einem Video, das der arabische Sender al-Jazeera bereits vor Wochen ausstrahlte, erklärt, er und seine Gruppe wollten den Kampf um Tschetschenien mittels Selbstmordattentaten nach Russland tragen.

Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der konkreten staatlichen russischen oder parastaatlichen tschetschenischen Version ist unbestreitbar, dass im Kampf der tschetschenischen Separatisten ein Formwechsel stattfindet. Vom klassischen Separatismus mit ethno-nationalistischer Prägung zum Jihad-Terrorismus, der sich im gesamten Kaukasus ausbreitet – so könnte man diese Tendenz zusammenfassen. Den Zeitpunkt des Umschlags datiert der mit Tschetschenien befasste Alexej Malachenko vom Carnegie Centre in Moskau in der französischen Tageszeitung Libération wie folgt: »Mitte der achtziger Jahre, als ein Teil der politischen Elite Tschetscheniens erklärte, einen islamischen Staat installieren zu wollen. Die Mehrheit der Leute war trotzdem dagegen. Aber die Idee wurde von Saudi-Arabien unterstützt, und islamistische NGO haben begonnen, Tschetschenien zu unterstützen. Als es klar wurde, dass das Projekt eines islamischen Staates fehlgeschlagen war, ist der Terrorismus aufgetaucht, als eine Reaktion auf die Unmöglichkeit, eine Verständigung mit den Russen zu finden, und als Rache für die tschetschenischen Toten. Verbindungen zum internationalen Terrorismus wurden geknüpft.«

Im Innern der tschetschenischen Separatistenbewegung hatte dies nach Angaben von Le Monde diplomatique (Juni 2003) auch institutionelle Konsequenzen: »Seit jeher schwankte Maschadow in seinem Verhältnis zu den Islamisten, doch in jüngster Zeit näherte er sich ihnen an, und im Sommer 2002 schuf er sich ein islamistisches Aushängeschild: die Majlis al-Shura (Beratende Versammlung), zu deren Vorsitzenden er Schamil Bassajew ernannte. Seither haben radikale Islamistenchefs neuen Auftrieb erhalten.«

All dies hat einen Strategiewechsel in der tschetschenischen Kriegführung bewirkt. Einerseits werden vermehrt Selbstmordanschläge auf russische Truppen und die militärische oder administrative Infrastruktur verübt. Auf der anderen Seite werden vermehrt zivile Ziele außerhalb der eigentlichen Kampfzone angegriffen. Die Geiselnahme in einem Moskauer Musical-Theater im Oktober 2002, für die Bassajew verantwortlich ist, ist ein Beispiel dafür, der Doppelsuizidanschlag auf ein Rockkonzert in Moskau mit 16 Toten im Juli 2003 ein weiteres.

Welche langfristigen Konsequenzen die islamistische Ideologisierung des Konfliktes haben wird, ist noch nicht ausgemacht. Nur eins ist sicher: Angesichts des islamistischen Wahns fällt es dem russischen Staat leicht, sich als das wesentlich kleinere Übel zu präsentieren und zugleich als einzig effektiver Schutz.

Womit ja implizit auf die historische Herkunft nicht nur des russischen Staates hingewiesen ist.