Kollaps und Kalkül

Die Machtkämpfe in den palästinensischen Gebieten haben sich verschärft. Soll das Anheizen von Machtkämpfen eine internationale Intervention provozieren? von andré anchuelo

Frühmorgens verließ der Palästinenser Khalil Zaben sein Büro in Gaza-Stadt zum letzten Mal. Maskierte Attentäter warteten schon auf ihn. Mit zwölf Kugeln streckten sie den 59jährigen nieder. Kurz darauf starb der Journalist in einem Krankenhaus.

Das Attentat am 2. März war nicht das erste dieser Art. Sowohl verschiedene Journalisten als auch hochrangige Politiker und Milizenführer wurden in den letzten Wochen zur Zielscheibe bewaffneter Übergriffe. Wenige Tage vor der Ermordung Zabens überlebte der Fatah-Funktionär Nuaman Shanti einen Mordanschlag nur knapp. Anfang Februar drangen fünf schwer bewaffnete Mitglieder des Präventiven Sicherheitsdienstes der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in das Büro von Ghazi Jibali, dem Chef der Zivilpolizei von Gaza, ein und schlugen ihn zusammen. Bei der folgenden Schießerei kam ein Polizist ums Leben, elf wurden verletzt.

Immer offensichtlicher wird, dass es bei den Gewalttätigkeiten vor allem um Machtkämpfe innerhalb der von Yassir Arafat geführten Institutionen und Organisationen geht. Sowohl in der Fatah-Bewegung und ihren Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden als auch in der PA mit ihren verschiedenen Polizei- und Sicherheitsdiensten gibt es schon seit längerem rivalisierende Fraktionen. Doch seitdem Israels Ministerpräsident Ariel Sharon Anfang Februar angekündigt hat, in absehbarer Zeit den größten Teil der israelischen Siedlungen im Gazastreifen zu räumen, und in israelischen Militärkreisen verschiedene Rückzugsmodelle entwickelt werden, beginnen die Streitigkeiten innerhalb der Fatah und der PA zu eskalieren.

Die Auseinandersetzungen beschränken sich dabei nicht allein auf den Gazastreifen. Mitte Februar entging der Gesundheitsminister der PA, Jawad Tibi, in Jenin nur knapp der Erschießung durch maskierte Attentäter. Kurz zuvor hatten über 300 Aktivisten der Fatah ihren Austritt aus der Organisation verkündet. Sie begründeten ihren Schritt mit der weit verbreiteten Korruption und Vetternwirtschaft in der PA und Arafats mangelnder Reformbereitschaft.

Unter dem wachsenden Druck der Basis trat Ende Februar erstmals seit drei Jahren der »Revolutionsrat« der Fatah in Ramallah zusammen. Als dort Nasser Yussuf, ein enger Berater Arafats, Reformen im Sicherheitsbereich forderte, bewarf der PA-Vorsitzende ihn mit einem Mikrofon. Eine Woche später wurden Yussufs Jeep und die Waffen seiner Leibwächter beschlagnahmt.

Ebenfalls Ende Februar trat Ghassan Shakah zurück, der Bürgermeister von Nablus, der größten palästinensischen Stadt in der Westbank. Er hoffe, »dass dieser Schritt ein Signal sein wird, das hilft, diese Stadt aus der gegenwärtigen Lage zu retten«, erklärte Shakah. Der hochrangige Fatah-Funktionär überlebte im November ein Attentat unverletzt, während sein Bruder ums Leben kam. Insbesondere in Nablus kamen in den letzten Monaten Dutzende Zivilisten bei Bandenkriegen, Fememorden und extralegalen Hinrichtungen zu Tode.

Auch palästinensische Menschenrechtsaktivisten, die sich sonst hauptsächlich auf die Anprangerung der israelischen Politik konzentrieren, kritisieren immer schärfer diese Entwicklung. So sprach Bassam Eid, Direktor der Palestinian Human Rights Monitoring Group, in einem Beitrag für die israelische Tageszeitung Ha’aretz von der »Herrschaft der Schläger«. Selbst in von der PA kontrollierten Medien häufen sich die Stimmen, die die Korruption anprangern und tief greifende Reformen im Finanz- und Sicherheitsbereich verlangen.

Diese Auseinandersetzungen haben nach Sharons Rückzugsinitiative für Gaza eine neue Qualität erreicht. Denn für die Zeit nach dem israelischen Abzug, der möglicherweise Anfang 2005, nach den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen, beginnen wird, zeichnet sich schon jetzt ein Machtvakuum ab. Die islamistische Hamas hat dort ihre Hochburg. Sie kündigte kürzlich an, demnächst einen Plan zur Verwaltung des Gazastreifens vorzulegen. Sofort einsetzende Spekulationen über eine mögliche Machtübernahme dementierte die Hamas-Führung allerdings nachdrücklich.

PA-Kreise verweisen auf die weitaus größere militärische Macht von PA und Fatah. Diese Einschätzung wird auch von Avi Dichter, dem Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Beth, geteilt: »Die PA hat mehr Ressourcen, und die Hamas weiß das. Sie wird sich nicht auf einen offenen Machtkampf einlassen.« Doch die schärfere Konfrontation zeichnet sich dem Ha’aretz-Korrespondenten Arnon Regular zufolge ohnehin zwischen den zwei wichtigsten Lagern innerhalb von PA und Fatah ab. Eine Fraktion besteht aus den loyalen Anhängern Arafats in verschiedenen PA-Sicherheitsdiensten und Fatah-Milizen, die andere wird angeführt von Arafats derzeit wohl schärfstem Widersacher, Mohammed Dahlan.

Der ehemalige Chef des Präventiven Sicherheitsdienstes im Gazastreifen war unter PA-Premierminister Mahmoud Abbas Staatsminister für Sicherheit und hat seit dem Zusammenbruch von Abbas’ Kabinett keinen offiziellen Posten. Doch neben einigen Fatah-Milizen kann er sich noch immer auf den Rückhalt des Präventiven Sicherheitsdiensts verlassen, der größten und am besten organisierten paramilitärischen Institution der PA. Arnon Regular vermutet, dass auch der Mord an Khalil Zaben der Dahlan-Fraktion zuzuschreiben sein könnte. Schließlich war Zaben nicht nur Journalist, sondern auch ein enger Medienberater Arafats.

Angesichts dieser Situation zeichnen sich zwei mögliche Szenarien ab. Zum einen wäre es möglich, dass Arafat und Dahlan sich früher oder später doch noch auf einen Kompromiss zur Teilung der Macht in Gaza einigen. So gab es im Februar bereits zwei Treffen der beiden in Ramallah, offensichtlich aber ohne greifbare Ergebnisse. Zum anderen könnte Arafat aber auch seine Strategie der »absichtlichen Aussetzung der Kontrolle«, so der israelische Kommentator Ehud Ya’ari, fortsetzen, um auf diese Weise vielleicht doch noch eine internationale Schutztruppe zu bekommen.

So könnte man die Schuld an Armut und Unterentwicklung weiterhin auf eine äußere Macht schieben, wäre aber gleichzeitig bei einer Fortsetzung des Krieges gegen Israel vor einem neuerlichen israelischen Einmarsch geschützt. Als ihm kürzlich sein US-Berater Edward Abington vorhielt, die PA stünde in Gefahr zu kollabieren, antwortete Arafat nonchalant: »Lasst sie kollabieren«, die Schuld könne man dann »Israel und den Amerikanern« geben.

Und die Schutztruppen könnte man möglicherweise von den Europäern bekommen. Während einer ausgedehnten Reise durch europäische Hauptstädte fand jedenfalls der derzeitige PA-Premierminister Ahmed Qurei, der angesichts seiner Machtlosigkeit sonst nicht viel zu tun hat, mit diesem Anliegen offene Ohren. So deutete der außenpolitische Repräsentant der EU, Javier Solana, an, man werde eine Truppenentsendung erwägen: »Wir werden offen sein für die Diskussion jedweder Möglichkeit«, erklärte Solana vielsagend. Und selbst in London spricht man bereits von der möglichen Stationierung »britischer Beobachter«.