Wenn Ärger rockt

DBC Pierre hat mit »Jesus von Texas« einen untypischen und schönen Texas-Roman geschrieben. von maik söhler

Vieles ist in Deutschland bisher zum Kant-Jahr publiziert worden, darunter wenig Kritik, und darunter wiederum sehr wenig, was sich mit Erkenntnis- und Unterhaltungsgewinn zu lesen lohnt. Gäbe es einen ersten Preis für die beste Schmähung Kants 200 Jahre nach seinem Tod, so müsste er ins Ausland gehen – an den in Australien geborenen, in Mexiko aufgewachsenen und mittlerweile in Irland lebenden Peter Warren Finlay alias DBC Pierre.

Früher war er nach Angaben des Aufbau-Verlags Spieler, Betrüger, Schmuggler, Schatzsucher und Filmemacher, heute ist er Schriftsteller. Vielleicht ist der Verlag aber auch auf die Selbstdarstellung des Hochstaplers hereingefallen und in Wirklichkeit ist es umgekehrt. Wäre ja auch nicht schlimm. Jedenfalls enthält sein Roman »Jesus von Texas« den schönsten Verriss jenes Philosophen, der seine Heimatstadt Königsberg nie verlassen mochte, und die Art, wie hier eine deutsche Ikone zerstört wird, verdiente wohl auch noch einen Sonderpreis für die größtmögliche Beiläufigkeit.

Denn es sind nicht irgendwelche europäischen Gelehrten der Vergangenheit, die von irgendwelchen europäischen Gelehrten der Gegenwart angeführt werden, um intellektuell mit Kant ins Gericht zu gehen. Es sind zwei minderjährige Null-und-Nichtigs, zwei verklemmte und dauernotgeile Schüler aus Martirio, Texas, USA, die sich über einen Philosophen unterhalten, »der wie ›Manual Cunt‹ klang«.

Der das sagt, heißt Vernon Little. Er ist noch keine 16 Jahre alt und muss doch schon fliehen. Sein bester Freund Jesus hat sich einige Gedanken über »Manual Cunts Katze in der Kiste« und Vernon gegenüber einige Andeutungen gemacht, die dieser nicht verstehen wollte oder konnte. Anschließend erschoss Jesus an der örtlichen Highschool zuerst 16 Mitschüler und dann sich selbst.

Nach dem Massenmord verdächtigen die Sheriffs und die Staatsanwaltschaft der Stadt Vernon der Mittäterschaft, der Beschuldigte ist schüchtern und verschlossen, Entlastungszeugen fehlen, die Öffentlichkeit der texanischen »Barbecuesaucen-Hauptsatdt« will von einem Verdacht erst gar nichts wissen und fordert gleich die Hinrichtung.

Er muss fliehen. Vor der Provinzgesellschaft, deren Hass er erwidert: »Rein wissenschaftlich gesehen, muss es in dieser Stadt zehn Quadrillionen Gehirnzellen geben, aber man braucht nur einmal rülpsen, bevor man einundzwanzig ist, und schon können alle zusammengenommen nur zwei Gedanken formulieren: Du bist verdammt noch mal schwanger, oder: Du bist auf Drogen. Zum Teufel mit dem ganzen Scheiß, ich verschwinde!«

Es ist auch eine Flucht vor seiner Mutter Doris, die mehr an seinem regelmäßigem Stuhlgang als an seiner Person interessiert ist (»Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie mir bei der Geburt ein Messer in den Rücken gestoßen hat und seitdem ständig in der Wunde rumstochert, damit sie ja nicht zuheilt«). Und es ist eine aus Texas (»Tyrie ist einer von der Sorte Texaner, die sich Zeit nehmen, um dir zu sagen, dass du dich verpissen sollst«) sowie eine aus den USA (»Wer wüsste das besser als wir Amerikaner – wir haben die Anmaßung schließlich erfunden«).

Das alles spricht weder für noch gegen Texas oder gar für oder gegen die USA. Wer seinen Hass auf Amerika bestätigt sehen möchte, wird nach der Lektüre genauso enttäuscht sein wie all jene, denen bei der nächsten Kundgebung der passende Büchertisch zur US-Fahne noch fehlt.

Als die britische Booker-Preis-Jury im vergangenen Herbst »Jesus von Texas« auszeichnete, so geschah das mit der Begründung, es handele sich um eine »schwarze Komödie, die sowohl unser Unbehagen als auch unsere Faszination in Bezug auf das moderne Amerika reflektiert«. Oder, wie es der Protagonist Vernon Little an passender Stelle und weniger pathetisch sagt: »Ärger rockt, verdammt.«

Das stimmt nicht immer. Der Fliehende wird schließlich gefasst, und was ihm zuvor nur wie eine ungünstige Situation an einem finsteren Ort mit schlechten Nachbarn erschien, hat sich in seiner Abwesenheit zur Hölle auf Erden entwickelt. DBC Pierre wirft eine rasende Medienmaschine an, deren sich alle bedienen wollen und die maßgeblichen Einfluss auf das ohnehin schon in den Wahnsinn gekippte Justiz- und Strafsystem zu nehmen beginnt. Und er beschreibt eine Gesellschaft, die am Highschool-Massaker gut verdient hat und die am Ende doch nur will, dass Vernon endlich getötet wird.

Als vor fünf Jahren die US-amerikanische Kleinstadt Littleton wegen eines ähnlichen Amoklaufs von Schülern in die Schlagzeilen kam, waren die Erklärungen für die Tat schnell gefunden: die Gewalt im Fernsehen, die freie Verfügbarkeit von Waffen, die anonymen Suburbs, die fehlenden Werte und der Leistungsdruck bei Jugendlichen. So wenig DBC Pierre an das Massaker von Littleton erinnern kann und möchte, so sehr tauchen all jene Erklärungsmuster in seinem Roman wieder auf. Aber nur, um in Frage gestellt und verworfen zu werden. In »Jesus von Texas« ist alles ganz anders. Sichtbar werden viele individuelle Strategien, die zum Glück führen sollen und die das Scheitern zur Folge haben. Und am Ende reicht ein kurzer Blick ins Klassenzimmer, um zu wissen, wie Hass entstehen kann.

Es sind vor allem diese knappen und oft saloppen Abseitigkeiten, die den Roman so interessant machen. Nie zuvor ist der Begriff »Paradigmenwechsel« schöner erklärt, selten sind die sexuellen (Alp-)Träume eines 16jährigen Jungen besser beschrieben worden. Der Stil und die Sprache sind trotz einiger Sprünge und reichlich Slang unaufgeregt und elegant, das von Beginn an gewählte hohe Tempo wird weitgehend beibehalten, Komik und Dramatik wurden geschickt in die Erzählstruktur integriert.

Bei Texasromanen gab es bisher eine Regel: schlechte erzählen die Gesellschaftsgeschichte des Landes, eine Familiensaga oder den american dream samt seiner Realisierung in Dallas und spielen wie Clark Howards »Die Rache ist mein« oder Annie Proulx‘ »Mitten in Amerika« fast ausschließlich in Texas; gute erzählen von der Flucht vor eben dieser Gesellschaft, genau diesen Familien oder davon, dass die eigenen Träume nur woanders verwirklicht werden können, und spielen wie Cormac McCarthys »All die schönen Pferde« in großen Teilen in Mexiko.

Seit »Jesus von Texas« erschienen ist, gilt die Regel nicht mehr. Der Roman ist gut, obwohl er überwiegend in Texas spielt. Vielleicht kommt seine Qualität daher, dass er auf die üblichen Lektionen in texanischer Gesellschaftsgeschichte zugunsten einer epischen Gesellschaftskritik und auf die Genese von Familien aus Amarillo oder Austin zugunsten der diffizilen Schilderung eines kaputten Familienalltags verzichtet. Und gewiss schadet die für den guten Texasroman obligatorische Flucht, natürlich nach Mexiko, auch in diesem Buch nicht.

DBC Pierre: Jesus von Texas. Aus dem Amerikanischen von Karsten Kredel. Aufbau-Verlag, Berlin 2004, 383 S., 19,90 Euro