Crossover in der Knesset

Ariel Sharons Abzugsplan aus Gaza stellt die Verhältnisse im israelischen Parlament auf den Kopf. Wird nun bald eine »Koalition der nationalen Einheit« das Land regieren? von michael borgstede

Sechsundfünfzig Jahre alt ist der Staat Israel. 30 Regierungen haben bisher die Geschicke des Landes bestimmt, und mathematische Grundkenntnisse sollten genügen um auszurechnen, dass die durchschnittliche Regierungszeit weit unter den vorgesehenen vier Jahren liegt. Nach einem Drittel der aktuellen Legislaturperiode hat Ministerpräsident Ariel Sharon nicht nur seine Mehrheit im Parlament verloren, sondern auch Teile der eigenen Likud-Partei gegen sich aufgebracht. Nähert sich die politische Karriere des ehemaligen Panzergenerals jetzt ihrem Ende? Oder kann der gewiefte Taktiker den Kopf noch einmal aus der Schlinge ziehen, eine solide Mehrheit aus dem Nichts zaubern und seine Rückzugspläne für den Gazastreifen verwirklichen?

Zunächst muss er seine Minderheitsregierung über den 4. August bringen. Dann beginnt eine zweimonatige Sitzungspause der Knesset, die Sharon zumindest die lästigen und von der Opposition beinahe täglich eingebrachten Misstrauensvoten vom Leib halten wird. Die Zustände in der Knesset sind mittlerweile derart chaotisch, dass alle Fraktionen wild durcheinander stimmen.

Um den geplanten Abzug aus Gaza zu unterstützen, enthielten sich die meisten Abgeordneten der Arbeitspartei (Awoda) bei den Misstrauensvoten der Stimme. Ein Dutzend Parlamentarier der regierenden Likud-Partei schloss sich dem an, derweil Yossi Beilins friedensbewegte Yahad-Partei gemeinsam mit den rechtsradikalen Nationalreligiösen gegen die Regierung stimmte. Überleben lässt sich mit solchen Mehrheiten und starken Nerven vielleicht noch, Politik kann man so nicht machen.

Das weiß auch Sharon. Will er wirklich, wie sein Bürochef am vergangenen Mittwoch ankündigte, bis 2007 weiterregieren, muss er spätestens zur Wiedereinberufung der Knesset Mitte Oktober eine regierungsfähige Mehrheit auf die Beine stellen. Am wahrscheinlichsten ist eine Wiederauflage der »Koalition der nationalen Einheit« mit der Arbeitspartei. Deren 19 Abgeordnete würden Sharon in der Knesset eine bequeme Mehrheit sichern, auch wenn ihm im schlimmsten Fall ein halbes Dutzend Likud-Hardliner abtrünnig würde.

Solange das Untersuchungsverfahren wegen Bestechungsvorwürfen gegen Sharon noch lief, verweigerte die Arbeitspartei Verhandlungen. Nachdem Generalstaatsanwalt Menachem Masus in der vergangenen Woche entschied, keine Anklage gegen Sharon zu erheben, stünde einem Beitritt der Arbeitspartei zur Regierung eigentlich nichts mehr im Wege.

Innerhalb der Awoda ist man darüber jedoch geteilter Meinung. Während der frühere Ministerpräsident Shimon Peres und der Knesset-Abgeordnete Haim Ramon mit Sharons Bürochef bereits Details eines Koalitionsvertrages diskutiert haben sollen, befürchten andere eine weitere Schwächung der angeschlagenen Partei. Dennoch demonstriert die zerstrittene Führungsriege der Arbeitspartei derzeit Einigkeit. »Nichts ist beschlossene Sache« sagte Peres, dessen berüchtigte »Geheimgespräche« mit Vertrauten Sharons in der Partei schon des Öfteren für Ärger gesorgt hatten. »Wenn eine offizielle Einladung zu Koalitionsverhandlungen eintrifft, werden die Parteiorgane sich damit auseinander setzen.«

Haim Ramon übte sich im Polarisieren und teilte die Welt in zwei Lager: »Es gibt Menschen, die für einen Rückzug aus Gaza sind, und welche, die uns dort für immer ins Chaos verstrickt halten wollen.« Seine innerparteilichen Konkurrenten, zu denen auch der Parteivorsitzende Amram Mizna gehört, zählen natürlich zu letzteren.

Vorsorglich hat die Awoda schon einmal ihre Forderungen für einen Regierungsbeitritt bekannt gegeben. Die ersten Reaktionen von Vertrauten Sharons fielen deutlich aus: »Das können sie gleich vergessen.« Sechs oder sieben Ministerposten, darunter das Außenministerium für Shimon Peres, hatte die Arbeitspartei gefordert. Außerdem müsse die Wirtschaftspolitik geändert und ein detaillierter Zeitplan für den geplanten Rückzug aus dem Gazastreifen und die Räumung von vier weiteren Siedlungen im Westjordanland aufgestellt werden.

Peres forderte für sich zudem die Posten des Chefunterhändlers mit den Palästinensern und des stellvertretenden Ministerpräsidenten. Darauf kann Sharon nicht eingehen. Sein Rückzugsplan hat die Abstimmung im Kabinett nur überstanden, weil eben bis März 2005 auf dem Boden zunächst mal gar nichts passiert. Ein detaillierter Zeitplan würde dem Beschluss, die tatsächliche Räumung von Siedlungen und jedes weitere Stadium des Planes vom Kabinett absegnen zu lassen, widersprechen.

Sharon muss aufpassen, den Unmut der gerade ruhig gestellten Troika aus Finanzminister Benjamin Netanjahu, Außenminister Silwan Shalom und Bildungsministerin Limor Livant nicht herauszufordern. Netanjahu hat deutlich gemacht, keine Kehrtwende in der Wirtschaftspolitik dulden zu wollen, und wartet nur auf die Gelegenheit zum Putsch gegen Sharon, als dessen natürlicher Nachfolger er sich sieht.

Shalom hat aus persönlichen Gründen kein Interesse an einer großen Koalition mit der Arbeitspartei, da Shimon Peres’ angestammter Sessel der des Außenministers ist. In der Auseinandersetzung um den Rückzugsplan gab er sich besonders unnachgiebig und hat deshalb im des rechten Flügel des Likud an Profil gewonnen.

Nicht nur innerparteiliche Querelen könnten das Zustandekommen einer großen Koalition erschweren. Während alle Welt nach Gaza schaut, scheint Sharon sein Versprechen an Netanjahu, den Trennungszaun östlich der Siedlungsstadt Ariel im Westjordanland verlaufen zu lassen, ernst zu nehmen. Den Palästinensern kämen dadurch 150 Quadratkilometer ihres zukünftigen Staates abhanden. Sollte es zudem zum geplanten Bau einiger 100 neuer Häuser in den Siedlungen im Westjordanland kommen, wird die Arbeitspartei der Regierung wohl fernbleiben.

Für diesen Fall bliebe Sharon nur die Zusammenarbeit mit den Ultraorthodoxen. Deren Beitritt zur Koalition wiederum könnte die betont säkulare Shinui-Partei aus der Regierung treiben. Justizminister Tommy Lapid gelang bei den Wahlen im Januar letzten Jahres ein Überraschungserfolg, weil er der vom gescheiterten Friedensprozess enttäuschten Bevölkerung als realistisches Alternativziel die Einschränkung der Befugnisse des mächtigen orthodoxen Rabbinats versprach. Träten die sephardisch-orthodoxe Shas-Partei und ihr askenasischer Gegenspieler Vereinigtes Thora-Judentum der Regierung bei, ließe sich ein Rückzug aus Gaza und die Räumung von Siedlungen wohl verwirklichen. Im Gegensatz zur Nationalen Union und der Nationalreligiösen Partei hängen die Orthodoxen nämlich nicht an den besetzten Gebieten. Doch ihre Stimmen müssen mit finanziellen Zuwendungen und einer Ausnahmegesetzgebung für orthodoxe Juden teuer erkauft werden. Die Zusammenarbeit mit dem religiösen Erzfeind, zur Verwirklichung eines so hehren Ziels wie des Rückzugplan, würde Shinuis Zukunft aufs Spiel setzen.

Und wenn alle Stricke reißen und Sharon im Oktober noch immer ohne Koalition dasteht? Wahrscheinlich würde ein Streit über den Haushaltsplan früher oder später zu Neuwahlen führen. Bis März 2005 ließe sich der Konflikt hinauszögern, dann müssten die Israelis innerhalb von drei Monaten in die Wahlkabinen. Sharon würde im Wahlkampf den Rückzug aus Gaza zum Thema machen, die Awoda könnte dem wenig entgegenhalten, und eine Koalition aus Likud, Arbeitspartei und Shinui wäre wohl das wahrscheinlichste Ergebnis. Damit träte die 31. Regierung Israels an, den Albtraum einer fatalen Besiedlung palästinensischen Landes endlich zu beenden.