Rubikon überschritten

Das Wort zum Jahr 2004

Die Kuh ist vom Eis. Die Bundesregierung, die den Spagat zwischen sozialer Gerechtigkeit und der Agenda 2010 aushalten musste, konnte ihre Visionen nahtlos umsetzen. Mit ihrem historischen Reformwerk, das nun in trockenen Tüchern ist, hat sie ein für allemal die Weichen gestellt. Indessen ist in der Bevölkerung die Schere zwischen Arm und Reich größer geworden. Dennoch muss die Regierung nicht zurückrudern. Der grüne Koalitionspartner stärkt dem Bundeskanzler nach wie vor den Rücken, indem er ihm den Rücken freihält, sodass er weiter Rückenwind hat.

Kritische Stimmen, die sich zunächst gemehrt hatten (Ottmar Schreiner), warfen keinen Schatten auf die Regierungsbank, sondern gingen unter. Die Regierungsmannschaft bröckelt nicht, sondern hält weiter Kurs. Ein Bruderzwist ist nicht in Sicht, denn die Grünen haben schon lange kein Interesse mehr daran, das Zünglein an der Waage zu spielen, sondern setzen voll auf einen Schmusekurs.

Auch die PDS, die schon lange nicht mehr an den sozialen Krisenherden vor Ort ist, nimmt Rot-Grün nicht etwa ins Kreuzfeuer, sondern lässt sich im Bedarfsfall willig vor den Regierungskarren spannen. Selbst die Gewerkschaften sind mittlerweile eingeknickt und sitzen zwischen allen Stühlen, ihre Vorschläge zu Lockerungen bei den Reformen sind geplatzt wie eine Seifenblase. Für eine kritische Linke fehlen nun die Ansprechpartner, um Druck aufzubauen.

Der Tropfen auf den heißen Stein aber, der schließlich das Pulverfass zum Überlaufen brachte, war dieses Jahr der Wettlauf der ganzen Parteienpalette darum, wer wohl vor dem Startschuss als erster die Zielgerade überschreitet, um schneller mit einem Reformpaket an der Startlinie zu stehen. Da preschte die CDU/CSU ein ums andere Mal vor und wagte einen Vorstoß nach dem anderen, um dem politischen Konkurrenten das Wasser abzugraben. Doch im Machtpoker darum, wer als erstes seinen Trumpf ausspielt, um den anderen über den Tisch zu ziehen, sind sich die Parteien gleich. Das Tauziehen darum, wer am Ende die grausameren Reformvorschläge auf den Tisch legt, entpuppte sich als reines Schattenboxen. Was die deutsche Parteienlandschaft angeht, finden die vermeintlichen Grabenkämpfe nur als Scheingefechte statt, denn die Gräben haben die Parteien bereits zugeschüttet und überwunden.

Fest steht jedenfalls: Über der Bevölkerung, die sich noch immer in einem Dornröschenschlaf befindet, obwohl sie massiv der Schuh drückt, wird weiter das Damoklesschwert Hartz IV schweben. Es bleibt also eine Zitterpartie. Doch das Zeitfenster, in welchem die Parteien akuten Handlungsbedarf nach weitergehenden Reformen anmelden können, bleibt weiterhin geöffnet. Die Parteien schnüren und bündeln hinter verschlossenen Türen schon neue Reformpakete. Entsprechende Eckpfeiler und Eckpunkte sind schon eingeschlagen bzw. markiert. Und es ist wohl mehr Peitsche als Zuckerbrot zu erwarten.

Wenn die Zeichen der Zeit nicht erkannt werden und nicht bald ein zündender Funke überspringt und einen flächendeckenden Flächenbrand entfacht, wird der Widerstand, der momentan anzupeilen wäre, auch künftig nicht umgesetzt werden. Und wenn die Regierung dann ein weiteres Mal den Reformmotor anwirft und grünes Licht für soziale Grausamkeiten gibt, kann der Zug jetzt schon als abgefahren gelten. Die Gretchenfrage wäre, ob es gelingen kann, dass Teile des außerparlamentarischen Spektrums sowie linke, emanzipatorische Strukturen und Praxen sich schon im Vorfeld gegenseitig vernetzen, um zeitnah Druck aufzubauen. Aber da wird wohl nichts draus. Und alle gucken dann abermals in die Röhre bzw. dumm aus der Wäsche.