Antitotalitäres Potsdam

In Potsdam greifen Rechtsextreme immer häufiger Linke an. Die CDU warnt vor einer »Spirale der Gewalt«. von peter sonntag

Die Rechten sahen die beiden aus einer fahrenden Straßenbahn heraus, zogen die Notbremse, stiegen aus und gingen auf sie los. »Scheißzecke, ich mach dich alle«, soll einer nach Angaben der Polizei gebrüllt haben. Dann begannen sie, die beiden mit Flaschen zu schlagen und dem bereits am Boden Liegenden gegen den Kopf zu treten. Sie prügelten die beiden krankenhausreif. 15 Neonazis waren in der Nacht vom 2. auf den 3. Juli in Potsdam an diesem Angriff beteiligt.

Eines der Opfer habe eine Schnittverletzung am Kinn erlitten, das zweite habe mehrere Tage wegen eines Schädel-Hirn-Traumas stationär im Krankenhaus behandelt werden müssen, teilte die AG Antifaschismus der Universität Potsdam mit. Der Vorfall ereignete sich mitten in der Innenstadt. Einige der mutmaßlichen Täter konnten kurze Zeit später festgenommen werden. Gegen fünf Personen ergingen Haftbefehle wegen »gefährlicher Körperverletzung«, die vom Amtsgericht zunächst gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt wurden. Die Staatsanwaltschaft Potsdam legte dagegen Beschwerde ein, da bei einem der Täter Wiederholungsgefahr bestehe.

Gegen vier Linke hingegen, die zwei Wochen zuvor einen jungen Neonazi zusammengeschlagen haben sollen, ergingen Haftbefehle wegen »versuchten Mordes«. Der Rechtsextreme erlitt eine Platzwunde am Kopf und Schürfwunden. Eine Frau sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl sei in ihrem Fall vollstreckt worden, weil sie nicht mehr dem Jugendstrafrecht unterliege. Sie wurde zudem angehalten, eine Aussage zu machen, was sie jedoch verweigerte. Daraufhin seien die Verhandlungen über eine mögliche Aussetzung des Haftbefehls sofort beendet worden, behauptet die Rote Hilfe Potsdam, die die Beschuldigten unterstützt. Zwei weitere Haftbefehle seien gegen Kautionen von 10 000 bzw. 60 000 Euro und Meldeauflagen ausgesetzt worden. Die vierte Person wurde wegen Minderjährigkeit wieder nach Hause geschickt. Am Donnerstag voriger Woche wurde ein weiterer Mann dem Haftrichter vorgeführt und kam in Untersuchungshaft.

Sven Lindemann, der Anwalt eines Beschuldigten, sagt: »Der zuständige Staatsanwalt hat in der Vergangenheit in Fällen, in denen ähnliche Schlagwerkzeuge verwendet worden sein sollen und teilweise schlimmere Verletzungen die Folge waren, Anklagen gegen Neonazis erhoben, die nur auf ›gefährliche Körperverletzung‹ lauteten.« Es gebe »keinen juristischen Grund für die Härte der Anklage. Das ist reines Kriminalisierungs- und Verfolgungsinteresse gegen junge Antifas.«

Die Postdamer Neuesten Nachrichten kommentierten: »Warum bei den einen so und bei den anderen so? Es kann doch nicht angehen, dass es in Potsdam vom Dienst habenden Richter abhängt, unter welchem Tatvorwurf ermittelt wird.«

Die Entscheidungen der Richter haben für einigen Unmut in Potsdam gesorgt. Jann Jakobs (SPD), der Oberbürgermeister der Stadt, sagte: »Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass Straftaten von rechten und linken Jugendlichen mit zweierlei Maß beurteilt werden.« Es sei nicht nachvollziehbar, dass die Haftbefehle gegen die bekannten Neonazis außer Vollzug gesetzt wurden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt mittlerweile wegen »versuchten Mordes« gegen sie, das Gericht geht weiterhin von »gefährlicher Körperverletzung« aus.

Die Situation in Potsdam hat sich seit dem Gerichtsverfahren gegen zwei Neonazis, die an einem Überfall auf ein linkes Wohnprojekt an Silvester 2002 beteiligt waren und mittlerweile zu Haft- bzw. Bewährungsstrafen verurteilt wurden, verschärft. Während der Verhandlung hätten Neonazis im Gerichtssaal die »Hoheit« gehabt, sagt Frauke Postel vom Mobilen Beratungsteam Brandenburg. Offenbar versuchten sie, mit ihrem Auftreten Zeugen einzuschüchtern.

Die Potsdamer Neonazis treten mit Unterstützung von Mitgliedern der Berliner Kameradschaften Tor und Berliner Alternative Südost (Baso), die im März dieses Jahres verboten wurden, aggressiv in der Stadt auf. Antifas sagten der Jungle World: »In den letzten Jahren war es kaum notwendig, Aktionen zu machen. Die Nazis waren isoliert, und die Innenstadt war alternativ. Erst seitdem die Baso und KS Tor in Potsdam aktiv sind, knallt es.«

Bürgermeister Jakobs sagte den Potsdamer Neuesten Nachrichten am Freitag, Potsdam sei zum »Aktionsfeld von rechten Gruppen« geworden. »Ich fürchte, hier ist eine Situation entstanden, die offensichtlich unterschätzt worden ist.«

Die Potsdamer CDU setzt derweil rechte und linke Gewalt gleich. So verteidigte Saskia Funck, die Parlamentarische Geschäftsführerin der Landtagsfraktion der CDU, die Potsdamer Justiz: »Unsere Justizbehörden dürfen nicht falschen und ungehörigen Angriffen ausgesetzt werden.« Die Gerichte »leisten zurzeit Großartiges bei der Aufklärung politisch motivierter Gewaltstraftaten zwischen Potsdamer Rechts- und Linksextremisten«. Jakobs werde seiner Rolle als Oberbürgermeister nicht gerecht, wenn er der Justiz unterstelle, die beiden Tätermilieus »angeblich mit zweierlei Maß« zu beurteilen. Sven Petke, der Innenpolitische Sprecher der CDU, nennt die Kritik geradezu »unverantwortlich« und spricht den Sicherheitsbehörden sein »volles Vertrauen« aus. Zuvor warnte er die SPD in einer Pressemitteilung davor, »den antitotalitären Grundkonsens zu verlassen«. Er spricht vor einer »Spirale der Gewalt« zwischen Linken und Rechten.

In den vergangenen zwei Monaten ist es nach einer Chronik des Antifa-Archivs in Potsdam zu 13 Übergriffen von Neonazis auf Linke gekommen, die von Pöbeleien bis hin zu tätlichen Angriffen reichten. Die AG Antifaschismus erläutert: »Dieser ganzen Kette von Gewalttaten gegenüber steht ein einziger Übergriff von linken Jugendlichen auf einen einschlägig vorbestraften Rechtsextremen.«

Die Polizei hat inzwischen ihre Präsenz in der Stadt erhöht. 30 zusätzliche, zum Teil verdeckt arbeitende Polizisten sind nach Angaben eines Polizeisprechers im Einsatz. Zudem wurde eine elfköpfige Ermittlungsgruppe »Potsdam« gegründet.