Wir waren so politisch
Selbstverständlich ist alles auch politisch. Natürlich ist heute Depolitisierung das größere Problem als politischer Existenzialismus. Sicher will auch ich nur in einem Kontext reden und schreiben, in dem Sätze wie »Windsurfen ist reaktionär« einen Sinn ergeben, in dem Leute also verstehen können, dass man Lebensstil politisch bewertet. Dennoch: Was politisches Handeln und politisches Denken sein könnten, kann man in den verschiedensten Kontexten diskutieren. Vokabular und Begriffe stehen dafür ebenso ausreichend zur Verfügung wie Vorstellungen, die sich dann mit den Begriffen verbinden und prüfen lassen.
Anders ist es mit dem Politischsein, der Grundlage des zentralen Imperativs der 68er-Generation. Sei politisch! Ihr müsst politisch werden! Was sich seit knapp fünfzig Jahren von einem Entwurf revolutionärer Subjektivität zur Standardethik der gymnasialen Mittelstufe entwickelt hat, bleibt ein so rätselhaftes wie allgegenwärtiges Signum dieser Generation und eine Hinterlassenschaft, an der ihre Nachkommen zu beißen haben. Wichtigste tiefenmoralische Innovation der 68er war, dass man politisch sein muss – politisch leben. Die Politisierung hatte alles zu durchdringen und zu bewässern, was man tat. Sie machte kritisierbar und diskutierbar, was vorher nicht nur als privat gegolten hätte, sondern auch als zu klein und zu unwichtig. Die Politisierung fragte das Alltagsleben: »Alles markieren?« Der Imperativ des Politisch-sein-Müssens klickte auf das Ja-Feld.
Lange hat es so ausgesehen, als sei dieser Imperativ durch alle weiteren Generationen erfolgreich weitergegeben worden. Man scherzte zwar schon 1977 über 68er. Der überverständnisvolle 68er-Lehrer, ein seither immens erfolgreicher Topos politisch-biografischen Geredes, war schon damals der Hanswurst. Aber niemand bezweifelte, dass man politisch sein muss. Auch als Punkrocker. Während der Jahre und Jahrzehnte ging der Sinn der Ganzheitlichkeit und Totalität dieses politischen Existenzialismus verloren. Und dass die Fortsetzung und Konkretisierung abstrakter Gesellschaftsdiagnosen in den persönlichen Beziehungen und den Machtverhältnissen im Alltag aufgedeckt und bearbeitet werden sollte, geriet in Vergessenheit. Doch den Imperativ gab es noch immer. Wir müssen politisch sein.
Demzufolge war denn auch der größte Generationenkonflikt immer der, dass die jeweils Jüngeren, sobald sie als neue Generation kenntlich gemacht waren, nicht politisch genug waren. Diese antworteten zwar brav – denn es war ja ein Konflikt mit Autoritäten und da war man längst schon wieder brav geworden –, dass sie sich doch engagierten. Ja, da horchten die Älteren auf, Engagement, das kannten sie auch, aber das war so äußerlich. Es glomm nicht innen. Sie waren zwar engagiert, die braven Jungen, aber sie waren nicht politisch.
Es ist schwer zu rekonstruieren, wie das damals entstanden ist: das Politischsein. Man konnte es vielleicht von Sachen wie Parteidisziplin oder bedingungsloser Hingabe an die Sache ableiten; von revolutionären Tugenden also, denen zufolge die Sache, der du dienst, größer ist als du selbst. Aber wahrscheinlich war es eher umgekehrt: einer K-Gruppe beizutreten oder einer Sekte, die ein klares Konzept davon hat, wie man dem Imperativ Folge leisten kann, war schon eine spätere Konsequenz davon, dass der Imperativ überhaupt ausgegeben worden war. Die Konjunktur von Dogmatismus und die Sehnsucht nach organisierten politischen Lagern war eher eine Entlastung einer allein nicht zu bewältigenden Verpflichtung.
Wie jeder weiß, ist der Weg von einer kulturell intellektuellen Unzufriedenheit zum Politischwerden recht weit. Vor allem, wenn der unmittelbar materielle Anlass fehlt, sich existenziell verwickelt zu fühlen; etwa die Drohung, von einer Vietnam-Kriege führenden Armee eingezogen zu werden. Dennoch sind kulturell unerträgliche, antisexuelle und provinzielle Lebensformen als Energien genauso wertvoll wie Hunger und Todesdrohung, wenn man das bessere Leben so exakt umrissen vor sich sieht. Da man Intellektueller war, konnte man nicht sagen: Ich will die BRD der mittleren sechziger Jahre verlassen und in einen Film von Godard oder eine Schallplatte der Rolling Stones hineinkriechen, aber man konnte genau aus diesem Wunsch ein Konzept für eine umfassende Umgestaltung des Lebens entwickeln, das man »Politischsein« nannte.
Wahrscheinlich gerade deswegen mit so einem Insistieren auf dem Politischen, weil das Bildmaterial der umfassenden revolutionären Phantasie aus Konsumartikeln, eben sophisticated Konsumartikeln kam. Daher auch das Insistieren darauf, dass Konsum ein Terror sei. Der Warenkonsum war in Wahrheit der besseren Welt viel zu nahe – und musste entschieden distanziert werden. Kaufhäuser mussten brennen.
Kritische und linke Theorie war in der Nachkriegszeit nicht nur in Deutschland vor allem Kulturkritik und Ideologietheorie gewesen. Wer vor 68 politisch war, war dies in der Kultur. Er oder sie war an Hochkultur, Jazz, Avantgarde und Nouvelle-Vague-Filmen interessiert, an Manipulation der Massen und Atomkriegsgefahr, weniger an Arbeiterbewegung oder Kapitalismustheorie. Während aber vor 68 klar war, dass auch die herrschende Kultur und vor allem ihre Massen- und Populärkultur einen geschlossenen Block des Falschen bildeten, dem man sich nur durch ästhetischen Feinsinn und lyrische Spitzfindigkeiten, mithin intern bourgeoisen Operationen entziehen zu können meinte, schien 68 gleich mehrere Horizonte zu öffnen, die diese Enge zu überwinden versprachen.
Erstens: Eine Dritte-Welt-Rezeption stellte im Namen des Anti-Imperialismus eine Verbindung zwischen spirituellen Nöten in den Metropolen und den materiellen der kolonialen Peripherie her. Zweitens öffnete der Triumphzug einer hedonistischen und sexualisierten, zuweilen auch kritischen Pop-Kultur die kulturelle Orientierung der kritischen Generation zur Jugend- und Massenkultur. Und Drittens erlaubte es die Erreichbarkeit von immer mehr ausdifferenzierten Kulturwaren, wie Reisen, Getränken, Drogen, Büchern, Schallplatten – der ganze rasant aufblühende Hipster-Kapitalismus –, diese Orientierungen zu leben.
Selbstverständlich stand – und das ist die Pointe der Geschichte – gerade diese Erreichbarkeit von Anfang an unter Verdacht. Was man einfach kaufen kann, kann es nicht sein. Das war weniger nur konsumkritischem Misstrauen geschuldet, sondern einer bürgerlichen Werttheorie der Erfahrung: Nur die seltene, weit entfernte und schwer – für den Protestanten durch harte Arbeit oder Askese, für den Plutokraten durch viel Geld, für den Kenner durch erlesenen Geschmack – erreichbare Erfahrung konnte von Belang sein. Den massenhaft kursierenden Bildern und Praktiken der Befreiung war nicht zu trauen, zugleich waren sie aber das Material, das die kritische Unruhe einiger Studierender zu einer globalen Massenbewegung machte.
Es musste ein Kontrollinstrument her, mit dem man überprüfen konnte, inwieweit die vielen neuen Subjektivitäten und Bewegungstypen wirklich politisch waren, inwieweit die einzelnen Beteiligten politisch sind. Und diese Inquisition wurde zu einer inneren Gewohnheit, die sich von sexual-politischen Reichianern bis zu K-Gruppen durch das ganze Spektrum zog, immer von dem Verdacht geleitet, jemand habe sich nur aus Gründen der Mode oder der Opportunität angeschlossen und sei also nicht authentisch.
Rot-Grün hat zwar die meisten politischen und subkulturellen Stränge gekappt, die die einzelnen Beteiligten des »Projekts« mit dieser Vergangenheit verbinden. Dennoch fühlen sie sich alle nach wie vor bemüßigt zu zeigen, dass sie – anders als die stoibernden Berufspolitiker klassischen Zuschnitts mit ihren Charaktermasken und ihrem uniformartigen Aussehen – aufgrund von gelebten Leben und existenziellen Erfahrungen tun, was sie tun, nicht aus Sachzwängen.
Das ging schon damit los, dass das lapidare Anzugtragen zum Thema wurde. Alle Politiker tragen irgendwelche Anzüge. Die Politiker aus dem Generationenprojekt aber tragen ganz bestimmte, zu denen sie sich entschieden haben und die eine Funktion in ihrer narzisstischen Lebensbilanz haben werden und eine »Phase« markieren, ihnen dereinst zeigen, wie sie zu einer bestimmten Zeit drauf gewesen sind. Das Laufen zu sich selbst, das Rauchen von Zigarren und die Kunstbeflissenheit passen da bestens rein. Grade letztere ging ja oft über die Staatsräson hinaus. Schröder, hatte man das Gefühl, braucht wirklich seine Dichter und seinen Lüpertz, Trittin macht auch keine umweltpolitischen Punkte, wenn er immer in der Volksbühne herumsitzt. Die meinten das alle so. Die führen ein politisches Leben. Die Grenze ist nach wie vor in beide Richtungen offen: So, dass man auch als Umweltpolitiker avancierten Castorf gucken muss, und dass avancierte Kultur unmittelbar in die Pfandflaschenfragen hineinprickelt. Diese Ganzheitlichkeit. Das ist es.
Interessanterweise ist aber der politisch-existenziell maximal authentische Akt der Wandel der Überzeugung. Nichts scheint so sehr ein Beleg dafür, dass jemand authentisch existenziell politisch lebt, wie der sich langsam anbahnende, von einigen größeren und kleineren symbolischen Gesten begleitete Wandel der politischen Überzeugung. Leute, die das Gegenteil von dem vertreten, was sie vertreten haben, als das Politischsein ihr Leben zu durchdringen und zu durchfeuchten begann, bleiben authentisch, weil sie es verstehen, auch ihre neue und ganz andere Position als ein Produkt des gleichen prinzipiellen Politischseins zu verkaufen. Das liegt daran, dass deren Darstellungskultur und Auftritte eben immer schon vor allem von den Personen handelten und wie sie gerade wieder politisch lebten, von der Präsentation einer politischen Kultur, eines Heldenlebens, das von den Abenteuern und Eroberungen eines politischen Seins handelte, von strategischer Schläue, weltmännischer Abgeklärtheit, tief empfundenem Leid und Mitleid, Spiritualität und Sexualität – nicht von Politik.
Die kulturkritisch geprägten Handelnden haben erkannt, dass ihre unmittelbare kulturelle Umgebung erobert und geprägt werden kann, dass in ihr, anders als in der noch primär faschistisch verseuchten Nachkriegskultur, das legendäre richtige Leben im Falschen möglich sein müsste. Von da aus zogen sie in die Politik.
Um 1970 verließ man die Universitäten und zog in die Fabriken und Gewerkschaften und gründete Organisationen. Jetzt war das Politischsein in die Außenwelt, die wirkliche politische Welt gedrungen. Diese gab es ab jetzt zweimal, als Erlebnis- und Erfahrungsraum und als reale politische Welt, so wie es sie vorher schon gab. Jeder Arbeiter verdoppelte sich: in sich selbst und in ein Zeichen für einen Arbeiter. Genauso gab es jetzt auch jedes politische Manöver der besagten Generation zweimal, einmal als gewagten, erfahrungsträchtigen Schritt in der politischen Biographie des Betreffenden, als Winkelzug oder Vervollkommnung seines Politischseins. Und als ganz realen Opportunismus, Karrierismus oder auch strategische Meisterleistung und politischen Erfolg.
Als Rot-Grün an die Regierung kam, entstand noch eine dritte Welt: Neben der politischen Realität und den Erfahrungswelten der politisierten Generation kam nun noch die massenmediale Repräsentation dazu. Sie produzierte eine spezifische Sphäre, die diesen Darstellern nun noch einen weiteren Horizont erschloss, in dem sich Kultur, Leben, Abenteuer und Politik durchdringen konnten. Und auf Durchdringen stehen sie. Es war in dieser dritten Sphäre, dass die Manöver und Maßnahmen der rot-grünen Politik zusätzlich zur 68er-Authentizitäts-Aura eine neue Form von Boulevard-Format generierten, die zu Beginn der rot-grünen Ära etwas euphemistisch »Glamour« genannt wurde.
Derweil bleibt der Imperativ bestehen, politisch zu sein oder zu werden. In ihm ist längst der alt-repressive und obrigkeitsstaatliche Begriff der Staatsbürgerpflicht mit dem der Politik-als-kulturell-existenzielles-Abenteuer der 68er verschmolzen. Die jungen Leute kuschen noch immer davor, aber einstweilen fällt ihnen nichts Besseres ein, als immer andere, neue »Generationen« zu erfinden. Das, haben sie gelernt, ist das Wichtigste, wenn man den politisch-existenzialistischen Normen genügen und für voll genommen werden will.
Und auch die verbliebene Kritik an Rot-Grün aus dem links-alternativen Milieu hat sich längst darauf zurückgezogen, den Regierenden die verfehlte Ästhetik ihrer Existenz vorzuhalten. Seit Jahren werden Lebensplan und Liebesfähigkeit Fischers, Klamottenwahl und Timbre der Roth, die Bräsigkeit Trittins und der parvenühafte Kanzler gegeißelt. Leute meines Alters und Milieus distanzieren sich von Rot-Grün schmunzelnd aus »ästhetischen Gründen« und finden, dass ästhetisch, natürlich nur ästhetisch, der Katholizismus mehr zu bieten habe. Andere, sonst scharfsinnige Stimmen bemerken, dass ihnen Rot-Grün vor allem »peinlich« sei, generationsmäßig und milieumäßig peinlich. Danach mag es zwar noch schlimmer werden, aber das muss einem dann wenigstens nicht peinlich sein.
Diese Empfindlichkeit gegenüber stilistischen Schnitzern in der Bewegung zwischen den zwei bis drei Realitätsebenen, auf denen diese Politiker ihr politisches Sein leben, ist nichts als die andere Seite von genau deren ursprünglich betroffenheitskulturellem, entleertem Authentizismus, von dem die Ästhetizisten sich eigentlich distanzieren wollen. Politik ist im Kern kein ästhetisches Geschäft.
Früher hatte man als Linker noch die Distanz zum parlamentarischen Geschehen, die einem etwa mit der viel geschmähten, aber definitiv nicht existenzialistischen Kategorie »kleineres Übel« wenigstens noch einen politischen Begriff dessen erlaubte, was auf dem Spiel stand. Auf dem Wege zum rein existenziell-ästhetischen Ekel sind der Linken die politischen Talente verloren gegangen. Dieses Talent besteht nämlich gerade in der Annahme der Gespaltenheit und notwendigen kognitiven Dissonanz politischer Arbeit. Nur wer eine radikale Kritik denken kann, ist zu einer akzeptablen pragmatischen Position befähigt.
Nur wer eine akzeptable pragmatische Position unterstützen kann, kann wirklich radikale Kritik entfalten. Um beides tun zu können, muss man unauthentisch sein können. Die berechtigte Frage der alten Gegenkultur, was Politik mit Leben zu tun hat, verdient bessere und kompliziertere Antworten als das Ideal der authentischen Identität oder der ästhetischen Angemessenheit. Peinlich ist oft immer noch besser als authentisch. Authentisch war Hitler.