Hinausflüchten, hineinflüchten

Dieter Ziebarth, Pfarrer im Berliner Abschiebegefängnis, ist in den Ruhestand gegangen. Zu DDR-Zeiten beobachtete ihn das Ministerium für Staatssicherheit. von karsten krampitz

Von Spandau nach Grünau war es immer eine kleine Weltreise. Anderthalb Stunden fuhr Dieter Ziebarth täglich mit der S-Bahn von seinem Zuhause am westlichen Stadtrand zu seiner Arbeitsstelle im Berliner Abschiebegefängnis. »Ich habe mich aber nie gelangweilt«, sagt der Pfarrer. Der 65jährige ging Anfang des Monats in den Ruhestand. Bei seinem Abschied verliehen ihm seine Freunde vom Berliner Flüchtlingsrat die »Goldene Säge«. Schließlich hat es in seiner Zeit als Seelsorger neun Ausbrüche gegeben, sieben davon sind geglückt.

Etwa 150 Menschen sind gegenwärtig in Grünau inhaftiert. Keiner von ihnen weiß, wie lange, 18 Monate sind möglich. »Seelsorge heißt hier, mit anderen die Ohnmacht zu teilen«, sagt Ziebarth. Die Frauen und Männer im Abschiebeknast haben im Gegensatz zu Untersuchungshäftlingen keinen Anspruch auf einen kostenlosen Anwalt oder wenigstens eine Rechtsberatung. Und das Haftende bedeutet eher selten Freiheit. Ziebarth spricht fließend Englisch und Russisch, außerdem Spanisch und ein wenig Französisch. »Ich hab’ den Leuten immer versucht zu erklären, was in dem Haftbescheid steht. Nämlich, dass sie hier drin sein müssen, weil sie angeblich kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben. Nicht aber, dass sie gestohlen haben oder anderweitig kriminell geworden sind.« Die drei Pfarrer in der Abschiebehaft, unter ihnen eine Pastorin, helfen beim Verfassen der Beschwerden, sie betreuen Hungerstreikende, und manchmal besorgen sie den Häftlingen auch einfach nur Dinge des täglichen Bedarfs. »Was ich schon an Schuhen für den Hofgang gesammelt habe …«

Wir sitzen in seiner kleinen Wohnung in Spandau, trinken türkischen Tee. Eine Familie hat Ziebarth nicht. Er lebt allein, ist aber nicht einsam. Diejenigen, die ihn kennen, sagen, dass er nie aufbrausend wird, selbst wenn er wütend ist. Was er in den nächsten Monaten mit seiner Zeit anfangen wird, weiß er noch nicht. Vielleicht mal wieder ein Buch lesen. Ansonsten gibt es da noch das Nachtcafé für Obdachlose in Treptow, das er seit zwölf Jahren ehrenamtlich betreut.

Ein wenig grotesk ist es schon, dass gegen den früheren DDR-Bürger in den siebziger Jahren wegen »Beihilfe zur Republikflucht« ermittelt wurde. Zuerst half er denen, die aus seinem Land hinauswollten, dann jenen, die in sein Land hineinwollten. Das gleiche Land, aber nicht der gleiche Staat. Die Akte, die das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) über ihn als »Operativen Vorgang« führte, beginnt mit dem 18. August 1976 und einer, wie die Leute damals sagten, »Republikflucht in den Tod«. Zu jener Zeit war Ziebarth Pfarrer an der Michaeliskirche im sächsischen Zeitz. Am 18. August 1976 übergoss sich sein Kollege Oskar Brüsewitz dort auf dem Marktplatz mit Benzin und zündete sich an. Nicht nur Mitwisserschaft wurde Ziebarth unterstellt. Es hieß sogar, er habe die Selbstverbrennung mitorganisiert, weil genau in jenem Moment die Kirchenglocken läuteten - angeblich auf seine Anweisung. Ziebarth und Brüsewitz kannten einander gut, sie waren Pfarrer im selben Kirchenkreis. Rippicha, die Gemeinde von Brüsewitz, liegt nur sieben Kilometer entfernt von Zeitz. Er könnte für seine Tat den Platz vor der Michaeliskirche gewählt haben, weil er um die Beerdigungstermine der Gemeinde wusste, also auch die genaue Uhrzeit kannte, wann Ziebarth dort die Glocken läuten ließ. Aber warum Brüsewitz das tat, dafür sucht Ziebarth noch heute nach Erklärungen.

Zwei Jahre später nahm Dieter Ziebarth eine Pfarrstelle in der Evangelischen Studentengemeinde in Leipzig an. In seiner Akte heißt es dazu: »Der Ziebarth wurde als Studentenpfarrer an die ESG Leipzig versetzt und somit sein Einfluss auf die anderen negativ-feindlichen Pfarrer im Kreis eingeschränkt.«

Eine kleine Kuriosität, die sich in Ziebarths Akte findet, ist der Briefwechsel der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS mit dem kubanischen Geheimdienst. Ziebarth hatte als Generalsekretär der Evangelischen Studentengemeinden in der DDR, eine Funktion, die er seit 1984 innehatte, seine Amtskollegin in Havanna besucht. Dabei ließ er sich die Stadt mit ihrer zum Museum umgebauten Hafenfestung zeigen. Soweit Ziebarth sich noch erinnert, war der letzte Ausstellungsraum den »Piraten des 20. Jahrhunderts«, den »US-Imperialisten«, gewidmet. Nachdem ihm eine kritische Bemerkung entglitten war, hakte die kubanische Generalsekretärin nach und er sagte so etwas wie: »Wir kennen noch eine andere Weltmacht.« Zurück in der DDR, entzog ihm das MfS vorübergehend den Reisepass. Der kubanische Geheimdienst empörte sich in einem Brief: »Bei uns hätten wir diesen Fall anders gelöst.«

Im Herbst 1989 gehörte er zu den Mitbegründern der Bürgerbewegung »Demokratie Jetzt«, die sich mehrheitlich für eine Demokratisierung des DDR-Sozialismus aussprach und gegen die Wiedervereinigung. Nach der Niederlage bei den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 schlossen sich die meisten Bürgerbewegungen den Grünen an und kamen somit im Jahr 1998 mit der SPD an die Macht.

»Ich hätte mir gewünscht, dass Rot-Grün bestimmte Wege, die eingeschlagen wurden, konsequenter gegangen wäre«, sagt Ziebarth. Hartz IV meint er damit nicht. Es dürfe nicht sein, dass die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, die die Bundesrepublik ratifiziert hat, hier nur für deutsche Kinder gelte. Wegen eines Vorbehalts der Bundesregierung können jugendliche Flüchtlinge in Deutschland bereits ab dem 16. Lebensjahr inhaftiert und abgeschoben werden. »Wir haben hier praktisch zweierlei Recht.«

Zuletzt betreute Ziebarth einen 30jährigen Roma. Die Ausländerbehörde weigert sich, seine in der Tradition der Roma geschlossene Ehe anzuerkennen. Der Mann soll nach Bosnien zurück, wohingegen seine Frau wegen einer schweren Nierenkrankheit nicht abgeschoben werden darf. Der offiziell allein stehenden Frau nahm man die zweijährige Tochter weg, weil sie ihren mütterlichen Pflichten nicht nachgekommen sei. »Schiere Unmenschlichkeit«, kommentiert Ziebarth.

In etlichen Fällen war er bei der Abschiebung unmittelbar dabei. »Manchmal war das so, als ob man als Pfarrer jemanden auf seinem letzten Gang begleitet.« Oft fehlten ihm die Worte und ein Händedruck musste genügen. Es kam vor, dass sich ein Abschiebehäftling bei ihm bedankte. »Ich sage, warum bedankst du dich, ich habe gar nichts gemacht. Sagt er: Doch, du hast mir zugehört.«

Die Ohnmacht in solchen Situationen konnte er nur schwer verkraften. Um sie zu verarbeiten, brauchte er immer Stunden. Der lange Heimweg von Grünau nach Spandau kam ihm da ganz gelegen. »Wie gesagt: Ich habe mich nie gelangweilt.«