Tanzstunde in der Favela

Wie kleine Sambaschulen sich in Rio de Janeiro auf den Karneval vorbereiten. von sigurd jennerjahn

Wenn am kommenden Wochenende die 14 besten Sambaschulen durch das Sambodrom von Rio de Janeiro tanzen werden, wird die Zahl der dabei mitziehenden Gringos vermutlich geringer als sonst ausfallen. Einige der führenden Sambaschulen haben im Dezember jedenfalls ihre Absicht bekundet, auf die Verstärkung ihrer Reihen durch Ausländer entweder ganz zu verzichten oder sie zumindest so auf die unterschiedlichen Abteilungen der Parade zu verteilen, dass künstlerische Defizite nicht allzu deutlich auffallen und womöglich zu Punktabzügen führen. Karneval ist schließlich eine ernste Angelegenheit.

Beija-Flor, der Champion der vergangenen drei Jahre, setzt nach eigenen Angaben schon länger ausschließlich auf brasilianisches Personal. Natürlich ist der Karneval auch ein hervorragendes Geschäft und der Verkauf von Kostümen an die Heerscharen von Touristen, die die Stadt in dieser Zeit besuchen, eine lukrative Einnahmequelle. Aber Gringos können nun mal keinen Samba singen. Als Zuschauer seien sie natürlich herzlich willkommen. »Wir Brasilianer gehen ja auch nicht nach Italien, um dort die Tarantella zu tanzen.«

So unfreundlich das klingt, es ist irgendwie auch verständlich. Denn mögen die beiden Wör­ter »ginga« und »gringa« sich auch zum Verwech­seln ähnlich sein, zwischen dem, was sie bezeichnen – und im ersten Falle ist dies jene federnde Geschmeidigkeit, die als unbedingte Voraussetzung für das Sambatanzen gilt –, liegen vielleicht doch Welten. Dass die markigen Worte einen nachhaltigen Einfluss auf den Ablauf des Spektakels haben werden, ist sowieso zu bezweifeln. Viel zu groß ist dessen wirtschaftliche Bedeutung für die Stadt, als dass man es sich an politisch verantwortlicher Stelle erlauben würde, die Karnevalstouristen ernsthaft zu verschrecken.

Im Gegenteil, fast alles wird unternommen, um den Erwartungen der auswärtigen Besucher zu entsprechen. Als Anfang 2004 ein brasilianischer Bundesrichter verfügt hatte, US-Amerikaner seien bei der Einreise nach Brasilien genauso zu behandeln wie Brasilianer, die in den USA ankommen – ihnen seien also die Fingerabdrücke abzunehmen, und ein Foto sei anzufertigen –, kam es an den Flughäfen in Rio und São Paulo zu mehrstündigen Wartezeiten für Reisende aus den USA. Gewissermaßen als Entschädigung ließ die Stadtverwaltung von Rio daraufhin eine Abordnung von Sambatänzerinnen als Empfangskomitee zum Flughafen bringen. Das bedient natürlich vortrefflich die Vorstellung vom Karneval als jenem Mix aus Exotik und Erotik, vom Gringo auf der Suche nach dem leichten Sex mit der Mulata. Und schwer ist es wahrlich nicht, Klischees bestätigt zu finden, nach denen es bei den Defilees der Sambaschulen in erster Linie um das Ausstellen spärlich bekleideter Körper gehe. Es wäre aber ein Fehler zu meinen, damit habe man nun alles begriffen.

Gerade in vielen Favelas und ärmeren Vierteln der Nordzone der Stadt haben Samba und Karneval noch immer eine erhebliche Bedeutung für das kul­turelle Selbstverständnis. Seit der Samba sich als die brasilianische Musik par excellence durchgesetzt hat, gab es zwar immer wieder Versuche der Eliten, ihn für sich zu vereinnahmen, aber das kann nichts daran ändern, dass er besonders in den Comunidades lebendig geblieben ist und gelebt wird. Dort, wo der weit überwiegende Teil der schwarzen Brasilianer zu Hause ist, ist er noch nicht zu Folklore erstarrt. Für die brasilianische Architektin Paola Berenstein Jacques gibt es gar eine Entsprechung zwischen Samba und der räumlichen Struktur der Favelas in Rio. Die Erfahrung des Körpers bei den tagtäglichen Bewegungen durch das Geflecht aus unregelmäßig mäandernden Gässchen und Stiegen finde im Rhythmus des Samba, in einer Ästhetik der ginga, ihren perfekten Ausdruck. Da können Stadtverwaltung und Unterhaltungsindustrie dann auch getrost den Karneval reglementieren, sie werden diese dionysische Lust an der Improvisation nicht zähmen.

Improvisation und Phantasie sind indes auch an ganz anderer Stelle gefragt. Denn während es sich traditions­reiche Sambaschulen wie etwa Mangueira leisten können, auch zahlungskräftige Gringos abzuweisen, wäre man bei so manch kleinerer Schule wahrscheinlich froh über sie.

Doch in Schulen wie denen von Man­guinhos oder Jacarezinho spielt man in dieser Hinsicht in einer ganz anderen Liga. Jacarezinho und Manguinhos sind Favelas, die sich im nörd­lichen Teil der Stadt flach zwischen Industriebrachen, Ausfallstraßen und Vierteln der unteren Mittelschicht hinziehen. Um die 100 000 Menschen leben in Jacarezinho. Manche sagen, es seien mehr, andere, es seien weniger. In Manguinhos, heißt es, lebten ungefähr halb so viele. Laerte, der Präsident der Unidos do Jacarezinho, eine durchaus stattliche Erscheinung, empfängt einen auf dem Übungsplatz seiner Sambaschule, der unter den Gleisen der Hochbahn liegt. Wenn nicht für Karneval geprobt wird, wird das Gelände als Parkplatz genutzt. Auf diese Weise lässt sich über das Jahr ein kleiner Zusatzverdienst für die Schu­le erzielen.

Hinter ihm an der Wand in seinem kleinen Büro hängen dicht gedrängt Wimpel und Abzeichen anderer Sambaschulen. Früher, in den achtziger Jahren, seien die Zeiten besser gewesen. Man habe damals zur Elite der Sambaschulen gezählt. Davon ist man heute weit entfernt. In der Grupo C, das heißt in der vierten Liga, muss man heute antreten. Wenn man oben stehe, sei es nicht schwer, an Geld heranzukommen. Man bekomme die üppigen Zuschüsse des Verbandes der Sambaschulen und habe obendrein bessere Karten beim Buhlen um Sponsoren. Heute müsse man mit einem Betrag von 42 000 Reais auskommen. Laerte schaut für einen Moment vorwurfsvoll. Das reiche kaum, um die Schulden vom letzten Karneval zu begleichen. Aus Mangel gilt es Opulenz zu erzeugen.

Zu uns gesellt sich der Carnevalesco, der für die künstlerische Ausgestaltung verantwortlich ist. Auch er heißt Laerte. Der Präsident ist froh, mich an den Mann verweisen zu können, denn er muss sich jetzt um Wichtigeres kümmern. Der Schuster ist gekommen, der für 1 200 Tänzer und Tänzerinnen die Schuhe herstellen soll. Er fordert zwölf Reais pro Paar, zehn, meint der Präsident, sei das Höchste der Gefühle.

Der andere Laerte erklärt derweil das Thema des diesjährigen Umzugs: Afrika in Brasilien. Seine Aufgabe sei es, sich zum einen in das Thema einzulesen, zum anderen die Kostüme zu ent­werfen und die Entwürfe mit den für die unterschiedlichen Abteilungen der Schule Verantwortlichen abzusprechen. Die großen Suppenkessel aus Schaumstoff, die eines der Tänzergrüppchen umschnallen soll, stechen aus der Sammlung heraus. Feijoada, das brasilianische Nationalgericht, soll dies repräsentieren. Verdienen kann man nichts mit diesen Arbeiten hier. Nebenher gestaltet Laerte aber noch einen der Wagen der Unidos da Tijuca, einer Schule der höchsten Kategorie, und dafür gibt es dann ein wenig Geld.

Auch Quito, der Karnevalsdirektor der Unidos de Manguinhos, hat Grund zu vielen Klagen, wenn er über Geld und die Aufteilung der Arbeit spricht. Manguinhos defiliert gemeinsam mit den Schulen der Gruppe D, also der zweiten von unten. Quito ist sich aber ziemlich sicher, dass man mit einem Stück über Tante Alice gute Chancen auf den Aufstieg habe. Tante Alice ist eine ehemalige Kran­kenschwester und Veteranin des Karnevals aus Mangueira. Zwischen 500 und 700 Leuten möchte er für eine getanzte Hommage an Tante Alice auf die Straße bringen. Es sei alles bestens vorbereitet. Wenn er aber vorher gewusst hätte, wie sich die Arbeitsteilung gestalten würde, hätte er den Job niemals gemacht. Derartige Reden gehören wohl auch ein wenig zum Geschäft, um das eigene Organisationstalent gebührend zu unterstreichen.

Große Schulen wie Mangueira würden zwar Patenschaften für kleine wie Manguinhos übernehmen, dabei gehe es aber in erster Linie darum, mit Instrumenten auszuhelfen. Gelegentlich erhalte man bei den öffentlichen Proben auch Besuch von den Baterias, den Percussion-Ensembles, größerer Schulen. Das ist dann eine Möglichkeit, durch den Verkauf von Eintrittskarten und Bier die Kasse etwas aufzubessern.

Als Anfang Dezember die Baterias von Jacarezinho und Manguinhos mit der der Mocidade Independente de Padre Miguel zusammenkommen, ist das Interesse der Bevölkerung erstaunlich gering. In einer riesigen Halle in Jacarezinho verlieren sich nur ein paar Hundert Gestalten. Auch so schaffen es ein paar Hand voll der Musiker problemlos, mit ihrem mäch­tigen Trommeln den Raum akustisch zu füllen.

Als Grund für die spärliche Präsenz der Anwohner führt Quito die Gewalt an. Viele Leute hätten einfach Angst, insbesondere abends noch aus dem Haus zu gehen. Beinah täglich gibt es Schießereien zwischen der Polizei, die seit ein paar Monaten gepanzerte Fahrzeuge einsetzt, und den lokalen Dealern. Zu bewaffneten Konfrontationen kommt es in der Regel dann, wenn die informellen Absprachen zwischen der Polizei und den Drogenkommandos ihre Gültigkeit verlieren. Ob die Opfer dieser Auseinandersetzungen tatsächlich in den Drogenhandel verwickelt sind oder ob es sich um Unbeteiligte handelt, spielt für Polizei und Medien keine große Rolle mehr. Auch der Samba leide unter dieser Eskalation der Gewalt, meint Quito.

Um Samba und Gewalt geht es auch – zumindest mittelbar – in einem Essay, den der Literaturwissenschaftler João Cezar de Castro Rocha 2004 in der Folha de S. Paulo veröffentlichte. Darin kommt er zu dem Schluss, dass sich die kulturelle Matrix zum Verstehen der brasilianischen Gesellschaft definitiv verschoben habe. Sei für den größten Teil des 20. Jahrhunderts die Figur des Malandro der Schlüssel zum Verständnis gewesen, erfordere der nunmehr erreichte Grad der Gewalt neue Begriffe wie etwa den der Marginalidade. Castro Rocha wählt bewusst diesen ebenso problematischen wie doppeldeutigen Begriff aus, denn er kann zum einen die Randständigkeit einer Person bezeichnen, ist aber landläufig eher auf Kriminelle gemünzt und wurde und wird dazu gebraucht, die Bewohner der Favelas als zumindest potenziell kriminell abzustempeln.

Aber zurück zum Malandro. Für gewöhn­lich versteht man darunter einen Menschen, der sich mit einer gewissen Eleganz, einer ge­hörigen Portion Verschmitztheit und durchaus auch kleineren Gaunereien durch die schwierigen Situationen des Lebens laviert. Für die Favelas in Rio und ganz besonders für die Kreise der Sambistas gilt er als einer der typischen Repräsentanten. Da­rüber hinaus sieht Castro Rocha in ihm eine Art Modellcharakter, der dafür steht, dass ein weit gefächertes Netz aus persönlichen Beziehungen allemal wichtiger ist als allgemeinverbindliche anony­me Regeln. Eine Konsequenz aus solchem Verhalten sei, dass Konflikte eher umgangen würden, nur selten offen ausbrächen. Davon könne heute aber keine Rede mehr sein. Zwar spielten persönliche Gunstbeziehungen nach wie vor eine zentrale Rolle in der Politik, die Gewalt in den Favelas – gleichgültig, ob die Gewalttäter Uniform tragen oder nicht – habe aber Formen angenommen, die es verbieten würden, im Malandro noch ein Modell zu sehen, mit dem man soziale Zusammenhänge erklären könne. Castro Rocha hegt die vage Hoffnung, dass die Ausgegrenzten es schaffen, das eigene Bild kulturell neu zu definieren. Welche Rolle der Samba dabei spielen kann, bleibt abzuwarten. Womöglich spielen neuere Musikstile wie Baile Funk hier eine größere Rolle.

Neu an der Repression der Favelados durch die Staatsgewalt ist aber allenfalls ihr Ausmaß. In den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts, als der Samba sich als eigenständiges musikalisches Genre herausbildete, wurden Sambistas von der Polizei verfolgt. Die Gitarre in den Händen eines Afro­brasilianers galt als klares Indiz für dessen Hang zu Aufruhr und Unbotmäßigkeiten aller Art.

Zwar gab es auch in dieser Zeit Angehörige der Elite – wie der Anthropologe Hermano Vianna zeigt –, die die Musik der Schwarzen aus den ärmeren Vierteln schätzten, aber sie waren eher die Ausnahme. Die Anekdote, derzufolge ein Musiker, der im Hause eines Senators zu einem Vorspiel eingeladen war, von der Polizei vorher verhaftet wurde, ist bezeichnend.

Das änderte sich erst, als in den dreißiger Jahren die ersten Umzüge der Sam­baschulen begannen und – als Resultat verschiedenster Ursachen – Samba und Karneval binnen kürzester Zeit zu einem nationalen Mythos erhoben wurden. Das nahm freilich nur den Samba aus der Schusslinie, nicht die Bewohner der Favela. Fortan behielt der Samba diesen doppelten Charakter, einerseits na­tionales Aushängeschild und gleichzeitig kulturelles Gedächtnis der Co­mu­ni­dades zu sein.

Die Geräuschkulisse einer Bateria ist in jeder Beziehung umwerfend, und es ist auch beeindruckend, Samstagnachmittags bei einer Feijoada mitzuerleben, wie dem Nachwuchs, der die Rhyth­men allein durch das Tänzeln in den Gassen der Favela noch nicht genügend verinnerlicht hat, freundlich, aber bestimmt die Richtung gewiesen wird. Allerdings, was kann man als Gringo groß dazu sagen? Man ist ein wenig blind – oder taub – für die Nuancen, es fehlen einem die Kriterien, und natürlich auch die ginga. Nicht von ungefähr klingen sambar, Samba tanzen, und zombar, spotten, ähnlich. Da ist zu hoffen, dass es kein böses Omen ist, wenn ausgerechnet Portela, die neben Mangueira wohl bedeutendste Sambaschule, in diesem Jahr ihr Kontingent an Gringos noch erhöht. Schon im vorigen Jahr ist sie nur knapp dem Abstieg entronnen, als der gigantische Adler, ihr Wappentier auf einem der Wagen, auf einmal flügellahm wurde und nur mit viel Mühe die erlaubte Zeit für den Umzug noch eingehalten werden konnte.