Eine Stille Urne

Immer mehr Menschen in Berlin können sich nicht mal mehr das Sterben leisten. Sie werden auf Kosten des Sozialamts beerdigt. von sebastian krüger

Erde knirscht unter den Sohlen, von kahlen Bäumen tropft es herab. Auf dem evangelischen Friedhof in Berlin-Karlshorst herrscht an diesem Februarmorgen typisches Novemberwetter: Es ist dunkel, nasskalt, die Stimmung melancholisch. »Heute haben wir eine Stille Urne«, sagt Friedhofsverwalter Bernd Thürling und meint damit eine Sozialbestattung, die ohne viel Aufhebens vonstatten gehen wird. Der Mittfünfziger, der mit seinem schlohweißen Haar und der sonoren Stimme wie ein Pastor wirkt, holt aus dem Geräteschuppen Erdbohrer und Schaufel und macht sich damit auf den Weg in die hinterste Ecke des Friedhofs.

Berlin hat 186 Friedhöfe, 103 davon sind evangelisch, 60 gehören dem Land, der Rest wird von katholischen, muslimischen, jüdischen und anderen Gemeinden betrieben. Obwohl sie sich meist in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Wohnvierteln befinden, spielen sie im Alltag der Lebenden kaum eine Rolle; dabei eignen sie sich mit ihrem oft park­ähn­lichen Ambiente gut als Orte des Innehaltens und der Erholung.

Thürling verwaltet sechs evangelische Friedhöfe im Südosten Berlins, pro Jahr finden auf ihnen rund 600 Beerdigungen statt. Knapp zehn Prozent davon sind so genannte Sozialbestattungen, die in der Regel als anonyme Urnenbeisetzungen und – weil es so einfach ist – von Thürling selbst durchgeführt werden.

Am Rande des Friedhofs bleibt er vor einer kleinen Wiese stehen. Nur ein unbehauener Stein in ihrer Mitte weist darauf hin, dass es sich um ein modernes Massengrab handelt, in dem schon über 300 Urnen beigesetzt wurden. Außer denen, die sich diese Form der Bestattung bereits zu Lebzeiten gewünscht haben, liegt hier auch die Asche jener, die sich nichts anderes leisten konnten. Eine grüne Markierung aus Plastik zeigt an, wo die nächste Urne in die Erde soll. Thürling setzt den Erdbohrer an und schraubt ihn schnell in den weichen Boden hinein, bis zur vorgeschriebenen Tiefe von 80 Zentimetern.

»Um unsere Trauer- und Bestattungskultur ist es traurig bestellt«, sagt Axel Kluth, Sprecher der Bestatterinnung Berlin-Brandenburg. »Für immer mehr Menschen wird eine würdige Bestattung unerschwinglich, für sie selbst und ihre Angehörigen.« Nach dem Bestattungsgesetz unterliegen Verwandte des ersten und zweites Grades der Bestattungspflicht, das heißt, sie haben dafür zu sorgen, dass ihre verstorbenen Familienmitglieder begraben werden. Nur wenn die Verwandten bedürftig sind oder kein Familienmitglied zu ermitteln ist, springt das Sozialamt ein.

Weil Berlin sparen muss, spart die Stadt auch bei den Toten. Im vergangenen Jahr kosteten sie den Landeshaushalt immerhin 2,3 Millionen Euro. Anfang des Jahres 2004 wurde das so genannte Sterbegeld, eine besondere Leistung der Krankenkassen, ersatzlos gestrichen, das waren zuletzt immerhin noch 525 Euro pro Todesfall. »Seitdem nehmen die Sozialbestattungen stark zu«, sagt Kluth, der selbst Bestattungsunternehmer in Schöneberg ist. »Wir verzeichnen einen Anstieg von 100 Prozent innerhalb der letzten zwei Jahre.« Bundesweit wird die Zahl der Sozialbestattungen auf 33 000 geschätzt, im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg waren es in den vergangenen zwölf Monaten 347.

Vor dem Karlshorster Friedhofstor hält ein Leichenwagen. Ein Bestatter, der geradewegs aus dem Krematorium kommt, bringt die Asche eines vor wenigen Tagen »alleinstehend Verstorbenen«. Die Asche befindet sich in einer schwarzen Kapsel, die die Form einer kleinen Vase hat – im Etat einer Sozialbestattung kommt die Verwendung einer Über- oder Schmuckurne nicht vor. Thürling nimmt das Gefäß und trägt es in die kalte, leere Friedhofskapelle, wo er es für »eine Stunde unters Kreuz stellt«, wie er sagt. »Das muss ich nicht tun, denn bezahlt wird es nicht. Aber es gehört sich so, finde ich.« Der Friedhofsverwalter macht demnächst sein Diplom in Betriebswirtschaftslehre. Das erworbene Wissen kommt seiner Arbeit zugute. »Friedhöfe sind Wirtschaftsbetriebe«, sagt er, »ich habe Einnahmen, und ich habe Ausgaben. Und die müssen sich irgendwie decken.«

In einem Rahmenvertrag hat der Berliner Senat günstige Preisabsprachen mit der Bestatterinnung getroffen. Darin wird detailliert und bis auf den Cent geregelt, wie viel für eine Sozialbestattung »einfacher Kategorie« ausgegeben werden darf. Für den Blumenschmuck zum Beispiel 51,12 Euro, für die Aufbahrung in der Friedhofskapelle 122,71 Euro. Ein Sarg darf nicht teurer sein als 238,43 Eu­ro – das ist der Preis für eine primitive, mit Papier ausgeschlagene Kiefernkiste.

Hinzu kommen die Friedhofsgebühren, die in Berlin je nach Lage und Art des Grabes zwischen 400 und 1 000 Euro variieren, auf evangelischen Friedhöfen jedoch generell niedriger sind als auf landeseigenen. Können für einen mittellosen Verstorbenen keine bestattungspflichtigen Angehörigen ermittelt werden, ordnet das Sozialamt eine »ordnungsbehördliche Bestattung« an: eine »Stille Urne« auf dem nächstgelegenen evangelischen Friedhof.

Dann gibt es weder Blumen noch eine Feier. Ein Holzkreuz wird nur in »zu begründenden Einzelfällen« aufgestellt, von einem Grabstein ganz zu schweigen. So etwas nennt Peter Storck »Sozialverscharre«. Er ist Pfarrer der Kreuzberger Gemeinde Heilig-Kreuz-Passion. »Zur Würde des Menschen gehört auch seine würdige Bestattung«, sagt er, »das gilt für eine einsame alte Frau, die man tot in ihrer Wohnung findet, ebenso wie für einen alkoholkranken Obdachlosen, der eines Nachts in einer Notunterkunft stirbt.«

Seine Gemeinde engagiert sich seit Jahren in der Obdachlosenhilfe und betreibt Wohn-, Hilfs- und Betreuungsprojekte. »Obdachlose werden oft billig entsorgt, da sie meist keinen Kontakt mehr zu ihren bestattungspflichtigen Angehörigen haben«, erzählt er. Vor vier Jahren richtete Storcks Gemeinde auf dem Friedhof »Vor dem Halleschen Tor« direkt am Mehringdamm ein »Grab mit vielen Namen« ein. Dort werden jene Obdachlosen beigesetzt, mit denen die Gemeinde über ihre vielen Projekte in Kontakt stand. Mittlerweile stehen auf der großen Marmortafel zehn Namen. »Viele von ihnen waren Zeit ihres Lebens für Ämter und Behörden nur eine Nummer, jetzt, im Tod, haben sie ihre Namen zurückerhalten«, sagt Storck.

Die »Stunde unterm Kreuz« ist vorüber. Thürling, der unterdessen Telefonate geführt, E-Mails geschrieben und Verwaltungsarbeit gemacht hat, geht hinüber zur Kapelle und holt die Urne. Kalt ist es nicht, aber die Luft riecht nach Regen. Friedhofsarbeiter schieben Schubkarren voller Laub vorbei. Langsam geht Thürling hinaus zum Urnenfeld, auf dem er an diesem Morgen das Loch aushob – für den letzten Gang eines namenlosen, alleinstehenden Obdachlosen. Er senkt die Urne in den schmalen Schacht hinab und verharrt einen Moment. Dann schaufelt er das Loch zu und drückt den grünen Stift links daneben in die Erde. Dort wird er in ein paar Tagen das nächste Loch ausheben.