Mit oder ohne Magensonde

Über acht Millionen Deutsche haben mit einer Patientenverfügung für den Fall schwerer Erkrankungen vorgesorgt. Doch eine rechtliche Regelung fehlt bislang. von guido sprügel

Schläuche, Monitore, Geräte, Apparate: Vielen Menschen graut es bei der Vorstellung, in den Genuss der modernen Apparatemedizin zu kommen. Fast immer denkt man dabei an überfüllte Krankenhäuser, schlechte Pflege und das Ausgeliefertsein in einer lieblosen Umgebung. Um dem vorzubeugen, verfassen immer mehr Menschen in Deutschland eine Patientenverfügung, in der sie ihre Behandlungswünsche im Falle einer schweren Erkrankung festlegen. Über acht Millionen Menschen haben bereits eine solche Verfügung verfasst. Doch nach einer Studie aus dem Jahr 2005 weiß rund die Hälfte der Befragten nicht genau, was eine solche Verfügung regelt. Und ob die Verfügungen in der Praxis auch angewandt werden oder werden müssen, ist bislang nicht zweifelsfrei geklärt.

Viele Ärzte schrecken vor Schadensersatzforderungen oder aus Angst vor einem vorzeitigen Ende ihrer Laufbahn davor zurück, etwa die Beatmungsmaschine abzustellen, obwohl ein Patient dies für bestimmte Fälle verfügt hat. Der Deutschen Hospizstiftung sind diese Ängste und die Unwissenheit bekannt. »Da es noch keine gesetzliche Regelung gibt, haben viele Ärzte einfach Angst«, fasst Doris Helms, Projektmanagerin bei der Stiftung, ihre Erfahrungen im Gespräch mit der Jungle World zusammen.

Auch der Bundesgerichtshof hat immer wieder eine gesetzliche Regelung der Patientenverfügungen gefordert. Ende März hat sich der Bundestag des Themas angenommen und in einer dreistündigen Diskussion zunächst einmal Meinungen gesammelt und über Thesen diskutiert. Von einem gesetzgebenden Verfahren ist man noch weit entfernt. Es geht darum, ein Gesetz zu erlassen, das regelt, wer über die Wirksamkeit der Patientenverfügung entscheidet und welche Fälle ausgenommen bleiben.

In der Debatte kristallisierten sich schnell drei Meinungen heraus. Da gibt es die Gruppe um den SPD-Abgeordneten Joachim Stünker, der im Namen der Selbstbestimmung eine weit reichende Patientenverfügung einführen will. »Es gibt zwar ein Recht auf Leben, aber keine Pflicht zu leben«, begründete Stünker seinen Antrag. Deshalb müsse es dem Patienten völlig freigestellt sein zu entscheiden, unter welchen Umständen er lieber leben oder lieber sterben wolle.

Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) schloss sich dieser Argumentation an. Am Dienstag der vorigen Woche konkretisierte sie ihre Ansicht und forderte, die Gültigkeit von Patientenverfügungen auch auf Wachkomapatienten und Demenzkranke auszudehnen. »Auch ein Mensch, der bei vollem Bewusstsein ist, kann jederzeit entscheiden, ob er sich medizinisch behandeln lässt oder nicht. Das gleiche muss für die Situation gelten, in der jemand bewusstlos ist, aber vorher festgelegt hat, was er will«, sagte sie der Berliner Zeitung.

Die zweite fraktionsübergreifende Gruppe im Bundestag hat den so genannten Bosbach-Röspel-Entwurf zur Debatte gestellt. Neben den Abgeordneten Wolfang Bosbach (CDU/CSU) und René Röspel (SPD) haben auch Abgeordnete der FDP und der Grünen an dem Entwurf mitgearbeitet. Er sieht eine Beschränkung der Patientenverfügungen auf unumkehr­bar tödlich verlaufende Krankheiten vor: eine »Reichweitenbeschränkung«.

Dieses Konstrukt kritisiert die Deutsche Hospizstiftung vehement. »Derartige Reichweitenbeschränkungen sind verfassungsrechtlich bedenklich, medizinisch kaum fassbar und für die Praxis untauglich«, betont der Geschäftsführende Vorstand der Stiftung, Eugen Brysch, in einer Pressemitteilung. So sei überhaupt nicht klar, welche Erkrankung zwingend und unmittelbar zum Tod führe. »Unumkehrbar tödlich verläuft auch das Leben selbst«, meint die Stiftung.

Die dritte Gruppe im Bundestag vertritt die Ansicht, dass die Patientenverfügungen überhaupt nicht gesetzlich geregelt werden sollten. Das Sterben ließe sich nun mal nicht vollständig rationalisieren, wird argumentiert. Eine Ansicht, die etwa der Präsident der Bundesärztekammer, Frank-Ulrich Montgomery, vertritt. Er betont, dass jährlich 800 000 Menschen eines natürlichen Todes stürben. Hingegen seien nur wenige Dutzend Fälle bekannt, in denen es wegen einer Patientenverfügung zu einer Auseinandersetzung gekommen sei. Die vorhandenen Gesetzesentwürfe lösten diese Fälle aber nicht, sondern verschlimmerten sie nur. Der Staat solle sich Montgomery zufolge aus diesen komplizierten Situationen am Lebensende eines Menschen heraushalten. »Es bedarf keiner gesetzlichen Regelung, die mehr Fragen aufwirft als Probleme löst«, sagte er.

Diese Meinung kann Doris Helms von der Deutschen Hospizstiftung nicht verstehen. Sie berät Menschen bei der Erstellung ihrer Patientenverfügung und hält eine gesetzliche Regelung für dringend notwendig. »Viele Menschen können nach einer umfangreichen Beratung sehr gut ihre Wünsche zu Papier bringen, wollen aber auch auf jeden Fall eine Rechtssicherheit – und die ist einfach noch nicht gegeben«, fasst sie ihre Erfahrungen zusammen.

Die Deutsche Hospizstiftung wirbt deshalb auch entschieden für eine gesetzliche Regelung. Allerdings mit Vorschlägen, die sowohl die Seite der generellen Befürworter als auch die Anhänger des Bosbach-Röspel-Entwurfs außer acht lassen. Die Stiftung fordert etwa die umfassende professionelle Beratung als Voraussetzung für eine Verfügung und darüberhinaus auch deren regelmäßige Aktualisierung. Viele Menschen kämen zunächst mit großen Ängs­ten vor »schlechter Pflege« und »Schläuchen und Geräten« in die Beratung der Hospizstiftung. Sie wollten daher so schnell wie möglich »abgeschaltet« werden. Oder sie wollten vor allen Dingen den Angehörigen nicht zur Last fallen. »Erst die fachkundige Beratung kann Vorurteile abbauen und schafft mit dem nötigen Wissen die Voraussetzung für eine selbstbestimmte Entscheidung«, erläutert Helms.

Vielfach fehle die Sachkenntnis über Krankheiten und ihre Eigenschaften. Nur mal etwas von der demenzkranken Oma der Nachbarn gehört zu haben, reiche nicht aus, die Krankheit zu verstehen und klare Behandlungswünsche zu formulieren. Und die Einstellung zu Krankheit und Schmerz könne sich verändern – eine stetige Aktualisierung der Verfügung sei somit unabdingbar.

Der Wunsch, schnell »abgeschaltet« zu werden, ist bei der derzeitigen Verfasstheit des Gesundheitssystems verständlich. Von den rund 800 000 Sterbenden in Deutschland im vergangenen Jahr erlebten nur rund 20 000 Menschen in ihrer letzten Lebensphase eine umfassende professionelle Sterbe­begleitung. Die so genannte Palliative-Care-Versorgung ist im Vergleich zum Jahr 2005 gerade mal um 0,1 Prozent von 2,4 Prozent auf 2,5 Prozent angewachsen. Die Deutsche Hospizstiftung fordert seit Jahren den Ausbau dieser Versorgung: bessere Hospizarbeit, mehr Palliativstationen, mehr Sterbebegleitung. In der Gesundheitsreform ist der Ausbau der Palliativmedizin beschlossen worden. Aber bisher sind nur wenig konkrete Schritte in diese Richtung unternommen worden.