Besetzen und regieren

Linke Bewegungen in Lateinamerika erproben neue Methoden der Politik und Produktion. Doch eine strikte Trennung zwischen außerparlamentarischen Gruppen und linken Regierungen gibt es nicht. von wolf-dieter vogel, mexiko-stadt

Aufstände im mexikanischen Regenwald, Krawalle in Buenos Aires, linke Wahlsiege quer über den Kontinent – wurden in Lateinamerika in den vergangenen zehn Jahren die Verhältnisse auf den Kopf gestellt? Eines ist sicher richtig: Angesichts weltweiter islamistischer Mobilmachung oder der Unfähigkeit der Linken in Deutschland, dem Abbau sozialer Mindeststandards Einhalt zu gebieten, befinden sich viele Gesellschaften des Subkontinents auf einem erfreulich fortschrittlichen Kurs.

In kaum einem Staat Lateinamerikas sind heute Einschränkungen im sozialen Sektor durchsetzbar, ohne dass dies auf den Widerstand von Gewerkschaftern, Bauernverbänden oder Linken stößt. Der von der US-Regierung vorgesehene Freihandels­vertrag Alca, der für ländliche Regionen katastrophale Auswirkungen hätte, war deshalb nicht realisierbar, und selbst im konservativ regierten Mexiko scheitert bislang der Versuch, die staatliche Energie­industrie für private Investoren zum Ausverkauf freizugeben. In Argentinien findet erstmals eine ernst zu nehmende Aufarbeitung der Jahre der Militärdiktatur statt.

Zugleich fordern Basisbewegungen kämpferisch ihre Rechte ein: Lehrer im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca organisieren einen Aufstand, der nicht zu Unrecht als »Sommer der Anarchie« bezeichnet wird, und die brasilianische Landlosenbewegung MST besetzt im großen Stil brach liegende Ländereien. Boliviens Indígenas setzen eine Verfassungsreform durch, und schwul-lesbische Gruppen erkämpfen in streng katholischen Ländern wie Brasilien oder Mexiko Gesetze gegen Diskriminierung.

Einige dieser Bewegungen gehen über traditionell linke Muster hinaus und versuchen, neue Modelle der Produktion oder des Zusammenlebens zu entwickeln. So propagiert der MST das Konzept der Ernährungssouveränität, das unter Einbeziehung moderner Technologien den heimischen Markt stärken und damit die Situation der Bauern verbessern soll. Die zapatistischen Rebellinnen und Rebellen aus dem südmexikanischen Chiapas organisieren sich unabhängig von staatlichen Institutionen und experimentieren mit einer Mischung aus indigener Tradition und moderner Herrschaftskritik, die eine Kritik an Rassismus, Machismus und Homophobie einbezieht. Das zapatistische Konzept des »Fragend gehen wir voran« hat dafür gesorgt, dass Selbstkritik möglich ist und als Fortschritt wahrgenommen werden kann, und der MST hat gezeigt, wie ein Konzept der direkten Aktion jenseits legalistischer Grenzen auf Massenbasis praktiziert werden kann.

So unterschiedlich die Zapatisten und der MST auch sind, beide zählen zu den Organisationen, die die Politik lateinamerikanischer Linker der vergangenen zehn Jahre entscheidend beeinflusst haben. Zugleich verweisen sie in gegensätzlicher Weise auf die Problematik, in der sich die außerparlamentarische Opposition auf dem Kontinent befindet.

Mit gutem Grund haben sich die Maskierten aus dem Lakandonischen Urwald im Wahlkampf des vergangenen Jahres vom sozialdemokratischen PRD abgegrenzt. Schließlich sind PRD-Vertreter vor allem in der Provinz in das korrupte Netz von Politik, Großgrundbesitz und Sicherheitsapparat eingebunden. Doch distanzierten sich fast alle einflussreichen Gewerkschaften, Bauernverbände und Stadtteilorganisationen von der radikal antiparlamentarischen Kritik der zapatistischen Rebellen. In der Hoffnung, mit dem Kandidaten Andrés Manuel López Obrador gegen Privatisierung und für soziale Rechte einen Schritt voran zu kommen, stellten sie sich auf die Seite des PRD-Politikers. Hätte ein Wahlsieg López Obradors nicht zumindest die Kampfbedingungen der indigenen Rebellen verbessert? Die Frage konnte nie beantwortet werden: Der PRD-Mann hat die Wahl verloren, wenn auch möglicherweise wegen Manipulationen.

Anders der brasilianische Präsident Inácio Lula da Silva. Obwohl der ehemalige Gewerkschafter die wirtschaftsliberale Politik seines Vorgängers weitergeführt hat und eine Agrarreform bis heute auf sich warten lässt, wurde Lula im vergangenen Jahr in seinem Amt bestätigt. Dafür sorgte auch der MST, denn ohne die Unterstützung der stärksten sozialen Bewegung Brasiliens hätte der Sozialdemokrat sein Ziel kaum erreicht. Wohl wissend, dass Großgrundbesitzer weiterhin starken Einfluss auf die politische Klasse haben, hofft der MST auf bessere Kampfbedingungen unter der Regierung Lula.

Auch international setzt der MST auf die Regierungsmacht: Führende MST-Aktivisten arbeiten mit dem venezolanischen Staatschef Hugo Chávez zusammen. Angesichts seiner US-kritischen und antiamerikanischen Gebärden und seiner Um­verteilungspolitik ist Chávez das Gegenstück zu Lula, der sich als Präsident längst zwischen G8 und Weltbank eingerichtet hat.

Der Venezolaner lässt indes keinen Zweifel daran, dass er sich gerne als Front­mann der Latino-Linken sieht. Beim Weltsozialforum (WSF) 2006 in Caracas kritisierte Chávez »ein Forum, das nur diskutiert«, und rief zur Bildung einer »antiimperialistischen Bewegung für den Sozialismus« auf. Damit sprach er jenen »Pragmatikern« aus der Seele, die eine Kooperation mit den »linken« Regierungs­chefs Lateinamerikas befürworten: Chá­vez, Evo Morales in Bolivien, Fidel Castro in Kuba und Daniel Ortega in Nicaragua. Jene, die auf das widersprüchliche und realpolitisch ineffektivere Treiben von unten setzten, reisten frus­triert aus dem mit den Symbolen der »Bolivarianischen Revolu­tion« geschmückten Caracas ab.

Viele soziale, indigene oder gewerkschaftliche Bewegungen eint mit diesen linken Regierungen, dass sie erfolgreich für eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums kämpfen. Wenn etwa die Einnahmen des venezolanischen Erdölkonzerns ­PdVSA in Gesundheits- oder Bildungsprogramme gesteckt werden oder die Verfassung Boliviens im Interesse der indigenen Bevölkerung umgeschrieben wird, so sind das Erfolge, die durch Regierungsmacht und Druck von unten durchgesetzt wurden.

Doch offenbart gerade die Praxis der tatsächlichen oder vermeintlichen linken Staatschefs, wie unterentwickelt noch heute die Kritik an autoritären und antidemokratischen Strukturen ist. Ein großer Teil der Linken akzeptiert die Maßnahmen, mit denen Chávez und der Sandinist Ortega systematisch mehr und mehr Macht an sich reißen. Die Kritik an Ortegas tête-a-tête mit der katholischen Kirchenhierarchie und an seinem Einsatz für ein Abtreibungsverbot blieb sozialdemokratischen sandinistischen Dissidenten vorbehalten.

Es wäre sicher verkürzt, die außerparlamentarische Opposition als Garant für eine kritischere Debatte über Autoritarismus und Demokratie zu betrachten. Zu eng sind die Wechselbeziehungen zwischen Staat und Bewegung, zu oft herrscht Übereinstimmung, wo radikale Kritik gefragt wäre. Dabei war es die Unfähigkeit, Kritik offen zu diskutieren, die schon viele linke Projekte zu autoritären Regimes verkommen ließ. Dies zu verhindern, ist die Aufgabe außerparlamentarischer Bewegungen. Aus den Regierungspalästen ist dafür jedenfalls kein Impuls zu erwarten. Und das ist auch gut so.