Die alten Schweden waren’s!

Nach den Unfällen in Krümmel und Bruns­büttel versucht die Atomindustrie, sich mit fadenscheinigen Argumenten aus der Affäre zu ziehen. Alles habe am schwedischen Betreiber gelegen, heißt es. In deutschen Kraftwerken seien solche Unfälle praktisch nicht möglich. Aber die Realität sieht anders aus. Von Jochen Stay

Vom Gau war in den vergangenen Wochen viel in den Zeitungen zu lesen. Das ist die Abkürzung für den »größten anzunehmenden Unfall«. Es handelt sich um den Unfall, gegen den ein Atomkraftwerk gerade noch technisch abgesichert wer­den kann, zumindest in der Theorie. Deshalb spricht man im Falle eines nicht mehr zu kontrollierenden Un­falls wie in Tschernobyl von einem »Super-Gau«.

Der Gau, der durch die Medien geisterte, war aber kein technischer, sondern, so hieß es oft, Rede­wen­dung vermittelt werden sollte, war folgendes: Die Unfälle in den AKW von Brunsbüttel und Krüm­mel seien an sich harmlos gewesen. Auch der Um­gang der Betreibermannschaften mit den auftretenden Problemen sei nicht diskussions­würdig. Das einzige, was richtig schief gegangen ist, sei die Art und Weise gewesen, wie der Strom­kon­zern Vattenfall in seiner Öf­fent­lichkeitsarbeit mit den Ereignissen umgegangen ist. Und auch das war eben nur ein Gau, also gerade noch kontrollierbar, und kein Super-Gau, bei dem einem alles um die Ohren fliegt.

Im Prinzip ist die Redewendung vom »Kommu­nikations-Gau« eine Methode, mit der die beun­ruhigte Öffentlichkeit wieder besänftigt werden soll. »Wir haben nichts gewonnen, wenn künftig schlechte Atomkraftwerke in der Öffentlichkeit besser präsentiert werden«, meinte etwa Gerd Ro­senkranz, der Atomfachmann der Deutschen Um­welthilfe, zu Recht. Denn das eigentliche Problem ist eben nicht die schlechte Kommunikation, son­dern ein Unfallablauf, der beim Betriebs­personal des AKW Krümmel panische Reaktionen verursacht hat, die zu Fehlentscheidungen und kritischen Situationen für die Sicherheit der Anlage geführt haben.

Ein schönes Beispiel für das Versagen technischer Hilfsmittel, die eigentlich vor Gefahren schützen sollen und dann eigene Gefahren erzeugen, ist die Geschichte vom Rauchmelder. Weil ein Messgerät für Rauchgase wegen des Brands des Trafos auf dem Kraftwerksgelände Alarm schlug, aber die Software dies fälschlicherweise als Rauchaufkom­men aus dem Kraftwerksgebäude selbst deutete, wurde in die eigentlich von Umgebungsluft abgedichtete Leitwarte des Reaktors automatisch »frische« Luft von außen zugeführt. Diese Luft war aber nicht frisch, sondern eben voller Gase aus dem brennenden Transformatorgebäude. So blieb den Mitarbeitern am Leitstand nichts anderes übrig, als mit der Gasmaske weiterzuarbeiten, was die nervliche Anspannung in der unübersicht­lichen Situation nicht verringerte. Genau dies hatte dann Missverständnisse und Fehler bei der Handhabung der Schnellabschaltung zur Folge, die in einer Katastrophe hätten enden können.

Dass sich die öffentliche Debatte mehr und mehr auf das Unternehmen Vattenfall und seine angeblich schlechte Kommunikationspolitik konzentrierte, gerade auch in Artikeln in Zeitungen, die der Wirtschaft nahe stehen, in Erklärungen der Konkurrenzunternehmen Eon, RWE und EnBW und schließlich sogar in Äußerungen der Bundeskanzlerin, war schon ein Teil der Rettungs­versuche für die plötzlich extrem verunsicherte Atomlobby.

Die Botschaft, mit der man versuchte, die Öffentlichkeit zu besänftigen, lautete: Deutsche Atomkraftwerke sind die sichersten der Welt, so lange sie nicht von schwedischen Firmen betrieben werden. Da passte auch die Geschichte von den alkoholisierten Bauarbeitern in schwedischen Reaktoren wunderbar ins Bild und schaffte es in die Schlagzeilen, auch wenn sie bereits zwei Wochen alt war.

Angeführt wurde auch die angeblich besonders problematische »Sicherheitsphilosophie« des schwedischen Staatsunternehmens Vattenfall, die ja auch schon beim schweren Störfall im dortigen AKW Forsmark vor einem Jahr sichtbar geworden sei. Als Kronzeuge wurde der ehemalige Chefingenieur von Vattenfall, Lars Olov Höglund, durch die Redaktionen gereicht. Er erläuterte im Deutschlandradio, dass in der schwedischen Atom­aufsicht meist ehemalige Mitarbeiter des Staatskonzerns für die Überwachung des AKW-Betriebs zuständig seien: »Im Prinzip kontrollieren also frühere Kollegen von Vattenfall, wie die Sicherheit hier in Schweden aufrecht erhalten wird.« Diese Verfahrensweise sei mit nach Deutschland gebracht worden, als Vattenfall die Reaktoren in Brunsbüttel und Krümmel übernahm.

Dabei ist genau dies überhaupt keine schwedische Besonderheit. In der Bundesrepublik gibt es seit Beginn des Atomzeitalters einen munteren Personalaustausch zwischen Aufsichtsbehörden, Betreibern von Atomkraftwerken und so genannten unabhängigen Gutachtern, wie etwa dem TÜV. Besonders oft geschieht es hierzulande, dass sich Mitarbeiter aus Ministerien und Ämtern, die sich um die Atomlobby verdient gemacht haben, irgendwann auf lukrativen Posten in der Energiewirtschaft wieder finden.

So war der jetzt entlassene Leiter von Vattenfalls Nuklearsparte, Bruno Thomauske, vorher leitender Beamter im Bundesamt für Strahlenschutz, unter anderem zuständig für die Genehmigung von Atommüll-Lagerhallen, mit denen die Stromkonzerne das lästige Endlagerungsproblem über Jahrzehnte verschieben können. Der zwei Tage später geschasste Vorstandsvorsitzende von Vattenfall Europe, Klaus Rauscher, war zu­vor Leiter der Bayerischen Staatskanzlei. Seine ihm jetzt zum Verhängnis gewordene überhebliche Art, mit kritischen Fragen in Sachen Reaktorsicherheit umzugehen, hat er sich nicht in Schweden angeeignet, sie ist vielmehr die hohe Schule deutscher Ministerialbürokratie.

Dass auch die anderen Stromkonzerne, denen jeglicher Bezug zu Skandinavien fehlt, keine besseren Atomkraftwerke und auch kein besseres Krisenmanagement haben, wurde in den ver­gan­genen Jahren oft genug unter Beweis gestellt. Im RWE-Kraftwerk Biblis etwa wurde im Jahr 1987 auf der Leitwarte eine brennende Warn­lampe von zwei Schichten nicht ernst genommen, weil sie dachten, die Lampe sei kaputt und nicht das Ven­til im Kühlkreislauf, dessen Zustand sie anzeigte. Erst die dritte Schicht reagierte und konnte damals den Super-Gau gerade noch abwenden.

Eon, der größte AKW-Betreiber der Republik, ist direkt in die Skandale von Brunsbüttel und Krüm­mel verstrickt. Der Konzern ist Miteigen­tümer der beiden Kraftwerke und entscheidet gemeinsam mit Vattenfall, etwa über den Stellenabbau beim Überwachungspersonal. Doch auch Eon tut alles, um die Debatte auf den Konzern Vattenfall und dessen PR-Abteilung zu begrenzen. »Schlechte Öffentlichkeitsarbeit ist noch lange kein Grund für den Ausstieg aus der Kern­energie«, meint der Konzernleiter, Wulf Bernotat.

Doch inzwischen ist die infolge der Unfälle in Krümmel und Brunsbüttel begonnene Diskussion kaum noch einzudämmen. »Die Kernkraft insgesamt steht inzwischen als Energiequelle so zweifelhaft da wie schon lange nicht«, meinte Tom Buhrow in den Tagesthemen. Der Tagesspiegel kommentierte: »Auch die besten Flugzeuge können abstürzen, die besten Schiffe können sinken – und jedes Kernkraftwerk kann eine Katastrophe auslösen.« In Bayern wird darüber debattiert, dass drei der fünf Atomkraftwerke im Land baugleich mit den norddeutschen Pannenreaktoren sind. Die Westdeutsche Allgemeine stellt fest, dass es höchste Zeit sei, sich endgültig von der Atomenergie zu verabschieden. Und dass die Eingrenzung auf Vattenfall nicht richtig funktioniert, zeigt auch die Südwestpresse: »Vertuschen, herunterspielen, verharmlosen – nach diesen Maximen handeln alle Kernkraftwerksbetreiber.«

Solche Kommentare gab es in den vergangenen Wochen in fast allen Medien. Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) fühlt sich dadurch bestärkt und fordert die schnellere Abschaltung alter Atomkraftwerke, um die Laufzeiten auf neuere zu übertragen. Dies aber würde das Atomzeitalter in der Bundesrepublik bis ins Jahr 2035 verlängern. Und Krümmel wäre davon gar nicht betroffen, zählt es doch gar nicht zu den ältesten Reaktoren. Deshalb taucht eine Forderung wieder auf, die seit dem so genannten Atomkonsens nur noch von eingefleischten Anti-Atom-Initiativen vertreten wurde: alle Atomkraftwerke sofort stilllegen!