LeserInnenworld

Jungle World, 35/08 »Vieles richtig, vieles unsinnig«
Zu viel Aufregung
Gibt es die »jüdischen Antisemiten« wirklich? Und falls ja: sind sie relevant? Wenn man die Besatzungspolitik Israels im Westjordanland mit der der Nazis gleichsetzt (oder auch nur durch Vergleich in deren Nähe rückt), so ist das ziemlich daneben, aber nicht unbedingt antisemitisch. Heutzutage wird so ziemlich alles mit dem NS bzw. Hitler verglichen: George W. Bush, Saddam Hussein, der zu strenge Bademeister im Freibad. Das ist in der Regel ein Resultat von blöder Gedankenlosigkeit, weil sich Hitler weltweit als Begriff für das Schlechte und Böse eingebürgert hat – wer nicht differenziert zu argumentieren weiß und auch sonst keine Ahnung von der Geschichte hat, greift eben zu dem Bild, das ihm so spontan einfällt. Und das ist dann meist der NS.
Das wesentliche Problem mit solchen Vergleichen ist doch eher, dass sie indirekt die Verbrechen der Nazis verharmlosen.
Natürlich freuen sich »echte« Antisemiten über Bücher wie die »Holocaust-Industrie« und über jedes kritische Wort von Juden über die Politik der israelischen Regierung. Aber Antisemiten haben solche »Unterstützung« nicht nötig – derartige Äußerungen sind bestenfalls die Sahnehäubchen auf ihrer Argumentation, nicht aber deren Fundament. Schon darum lohnt es sich nicht, sich so furcht­bar über vermeintliche »jüdische Antisemiten« aufzuregen. Es verleiht nebensächlichen Äußerungen nur unnötig Gewicht. Eben die Aufregung aber ist es, die jede vernünftige Diskussion über Israel zunichte macht. Zum Vergleich zwischen dem »jüdischen Selbsthass«, wie ihn Theodor Lessing beschrieben hat, und dem »jüdischen Antisemitismus« der Gegenwart: Lessing hat zu einer Zeit geschrieben, als die Assimilationsbestrebungen vor allem im deutschen Judentum besonders stark waren – der von ihm beschriebene Selbsthass war somit vor allem eine Reaktion auf die Schwierigkeiten der Integration. Dieser intellektuelle Diskurs der jüdischen Diaspora lässt sich allerdings nicht mit der heutigen Lage vergleichen. Bert Hoppe

Jungle World, 34/08 »Die Avantgarde der Sanierung«
Nicht vom Himmel gefallen
Es scheint in Vergessenheit geraten zu sein, dass in den siebziger Jahren der Sanierungsplan war, weite Teile Kreuzbergs durch Abriss (Kahlschlagsanierung) für einen Autobahnbau vorzubereiten. Die extreme Linke hat allerdings so begeistert dagegen gekämpft, dass der Plan aufgegeben werden musste. Auch nach diesem kleinen Sieg wollte die Begeisterung kein Ende nehmen (in der Hochphase der Autonomen), und die Bourgeoisie ließ es sich einiges kosten, um den Bezirk zu befrieden. Wenn heute Ali, Mustafa und Bahamas-Mitarbeiter in mit öffentlichen Mitteln aufwändig sanierten Altbauwohnungen in Kreuzberg zu halbwegs erträglichen Mieten wohnen können, dann ist das nicht vom Himmel gefallen oder aus dem freien Markt gewachsen, sondern sie haben das ganz konkret den militanten Straßenkämpfern der Achtziger zu verdanken. Silver Surfer