Die Freilassung des Lockerbie-Attentäters

Das Mitgefühl der Schotten

Der wegen des Terroranschlags von Lockerbie verurteilte Libyer Megrahi wurde freigelassen. Die US-Regierung und die Angehörigen britischer Opfer kritisieren diese Entscheidung, jedoch aus unterschiedlichen Gründen.

Der blutigste Terroranschlag der britischen Geschichte bleibt auch über 20 Jahre nach der Tat ungeklärt. Das meinen zumindest die Angehörigen der britischen Opfer des Anschlags von Lockerbie. Am 21. Dezember 1988 starben 270 Menschen, als ein Flugzeug der Pam Am auf dem Weg von London nach New York explodierte und über dem schottischen Dorf Lockerbie abstürzte.
In der vergangenen Woche wurde der einzige für schuldig befundene Täter, Abdelbaset al-Megrahi, von der schottischen Justiz begnadigt. Unmittelbar nach seiner Entlassung flog der 57jäh­rige nach Libyen. Die Freilassung des 2001 zu lebenslanger Haft verurteilten Libyers nach nur acht Jahren hat den Fall Lockerbie erneut in die internationalen Schlagzeilen gebracht.
Der schottische Justizminister Kenny MacAskill bezeichnete die Begnadigung als Akt des Mitgefühls, da Megrahi an Prostatakrebs im Endstadium leide. Auch wenn Megrahi selber kein Mitgefühl für seine Opfer gezeigt habe, könne er in den Genuss des schottischen Mitgefühls kommen, erklärte der Minister.

Zweifel an so hehren Motiven erregte die Tatsache, dass Megrahi gleichzeitig seinen Berufungsantrag zurückgezogen hat, der Prozess also nicht noch einmal aufgerollt wird. MacAskill musste sich in der vorigen Woche nicht nur gegenüber seinem eigenen Parlament in Edinburgh für den Gnadenakt rechtfertigen. Der US-Präsident Barack Obama, Außenministerin Hillary Clinton, hochrangige Senatoren sowie Angehörige amerikanischer Opfer hatten MacAskill dazu aufgefordert, Megrahi nicht zu begnadigen. Er verdiene es nicht, in den Genuss von Mitgefühl zu kommen. Die meisten Opfer des Anschlags von Lockerbie waren US Amerikaner.
Die britische Regierung hatte zuvor ostentativ zu dem Vorgang geschwiegen und ihn als eine Angelegenheit Schottlands bezeichnet. Tatsächlich hat Schottland innerhalb Großbritanniens ein unabhängiges Rechtssystem, Megrahi wurde nach schottischem Recht verurteilt. Doch viele Kritiker wollen nicht an eine solche Eigenständigkeit der Schotten glauben. Sie blicken nach London und vermuten, wirtschaftliche Interessen sprächen für gute Beziehungen mit dem öl- und gasreichen nordafrikanischen Land und seien der Grund für die Begnadigung. Im Jahr 2007 schloss BP einen umfangreichen Vertrag zur Erforschung und Ausbeutung libyscher Öl- und Gasfelder.
Die Vorwürfe wurden so laut, dass sie sowohl vom britischen Außenminister David Miliband als auch von Industrieminister Peter Mandelson explizit zurückgewiesen werden mussten. Dies sei eine infame Unterstellung gegen ihn persönlich und gegen die Regierung, sagte Miliband. Auch Mandelson, der sich noch Anfang August mit einem Sohn des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi getroffen hatte, wies die Vorwürfe zurück. Zweifellos wurde das Thema Megrahi bei Treffen zwischen der britischen und ­libyschen Regierung immer wieder verhandelt.

Die libysche Regierung besteht darauf, dass Megrahi unschuldig ist. Am Freitag der vergangenen Woche wurde der 57jährige in Tripolis von jubelnden Menschen begrüßt. Der triumphale Empfang für den verurteilten Massenmörder war aus der Sicht der Amerikaner und Briten eine Provokation. Vor der Freilassung hatte Obama verlangt, dass Megrahi in Libyen wenigstens unter Hausarrest gestellt werde. Premierminister Gordon Brown verbat sich Feierlichkeiten. Doch Gaddafi ließ es sich nicht nehmen, mit Megrahi im Staatsfernsehen aufzutreten.
Wenn Megrahi der Täter war, kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass der Auftrag von Gaddafi kam. Doch auch Verwandte der britischen Opfer sowie mehrere unabhängige Prozessbeobachter meldeten sich in der Debatte zu Wort, um daran zu erinnern, dass Megrahi in einem fragwürdigen Indizienprozess verurteilt wurde. Das Gericht war in seinem Urteil davon ausgegangen, dass Megrahi als Angehöriger des libyschen Geheimdienstes die Bombe gebaut und in Malta in einem Koffer platziert hatte. Mit einem Flugticket nach New York habe Megrahi dann den Koffer in Malta eingecheckt, ohne selber mitzufliegen. In Frankfurt wurde der Koffer in das Flugzeug umgeladen, das dann auf dem Weg nach New York noch einmal in London Heathrow zwischenlandete.
Diese Version folgte der Theorie, die das FBI und die britischen Ermittler seit 1991 vertraten. Damals verlangten sie die Auslieferung Megrahis und eines weiteren libyschen Agenten, al-Amin Khalifa Fhimah. Weil Libyen sich zunächst weigerte, beschloss der UN-Sicherheitsrat weit reichende Sanktionen gegen das Land.
In den neunziger Jahren entwickelte sich eine umfangreiche Debatte. Skeptiker, darunter die Angehörigen der britischen Opfer, wiesen darauf hin, dass man bei den Ermittlungen nach dem Anschlag zunächst die palästinensische Terrorgruppe PFLP-GC verdächtigt hatte, die von Syrien gesteuert wurde. Diese habe im Auftrag der iranischen Regierung gehandelt, die sich für den Abschuss einer iranischen Passagiermaschine durch ein US-Kriegsschiff im Sommer 1988, bei dem 290 Menschen ums Leben gekommen waren, rächen wollte. Für die iranisch-syrische Spur gab es eine Reihe von Indizien.
Die amerikanischen und britischen Ermittlungsbehörden stritten diese Version allerdings von 1991 an kategorisch ab. Eine Reihe von anderen Theorien wurde vorgebracht. So hätten Briten und Amerikaner damals Syrien und den Iran als Verbündete im Krieg gegen den Irak gebraucht und den Schuldigen daher lieber im isolierten Libyen gesucht, das Saddam Hussein unterstützte. Einer anderen Theorie zufolge hatten sich die palästinensischen Terroristen einen durch die CIA geschützten Drogenschmuggel zu Nutze gemacht, um die Bombe an Bord des Flugzeuges zu bringen. Amerikanische Sicherheitskräfte hätten demnach illegal und zudem noch fahrlässig gehandelt und dadurch das Attentat überhaupt erst ermöglicht. Um dies zu vertuschen, habe die amerikanische Regierung die Schuld auf Libyen geschoben.
Oft mischten sich Fakten, Vermutungen und Verschwörungstheorien, die Veröffentlichung mehrerer Enthüllungsbücher konnte nichts da­ran ändern, dass offiziell weiterhin Libyen als Drahtzieher des Anschlages galt. Die libysche Regierung gab im Laufe der neunziger Jahre dem Druck der UN-Sanktionen nach und lieferte die beiden Angeklagten aus, bestand aber weiterhin auf deren Unschuld. Das Urteil der Richter im Lockerbie-Prozess war salomonisch (Jungle World 7/01). Während Megrahi verurteilt wurde, sprach das Gericht Fhimah frei. Sowohl Libyer als auch Briten und Amerikaner konnten diese Entscheidung als Bestätigung ihrer Sicht der Dinge werten.

Megrahis Anwälte arbeiteten jahrelang an einem Berufungsverfahren, zunächst vergeblich. Doch in den vergangenen Jahren hatten die Anwälte schließlich so viel Material zusammengetragen, dass die schottische Justiz ein Revisionsverfahren erlaubte. Schlimmer als die Begnadigung Megrahis sei, dass es zu diesem Verfahren nun nicht kommen werde, sagte Pamela Dix, die Sprecherin der britischen Angehörigen der Opfer. Megrahi hätte die Revision trotz der Begnadigung erhalten können. Dix forderte nun eine unabhängige Untersuchungskommission, was von der britischen Regierung seit 21 Jahren abgelehnt wird. Aufgeben werde sie nie: »Die Familien wussten von Anfang an, dass es ein harter Kampf werden würde, die Wahrheit zu finden.«