Polizeigewalt bei den »Occupy«-Protesten in den USA

Vom Besatzer zum Besetzer

Die »Occupy«-Proteste in den USA dauern trotz Festnahmen und Polizeigewalt an.

Auch dafür gibt es eine App: Wer beim Besetzen der Wall Street verhaftet wird, kann binnen zwei Sekunden seinen gesamten Bekanntenkreis dar­über informieren. Zu verdanken ist dies dem in Brooklyn ansässigen, 43jährigen Software-Entwickler Jason Van Anden. »Die Freundin eines Bekannten von mir wäre vor drei Wochen bei einer Demonstration beinahe verhaftet worden«, sagt er. So kam Van Anden auf die Idee für die passende App: »I’m getting arrested«. »Der Benutzer gibt vorher eine Nachricht und eine unbegrenzte Anzahl von Handynummern ein«, erläutert der Erfinder. Falls die Polizei kommt, wird die SMS an alle Kontakte versandt. Über 12 000 Mal wurde Van Andens App in den vergangenen drei Wochen heruntergeladen. Er selbst sei noch nicht bei einem »Occupy«-Protest gewesen, gibt er zu. Er hat einen zweijährigen Sohn und ist nicht sicher, ob er »einfach den Kinderwagen mitbringen kann«.
Die »Occupy«-Bewegung in den USA wächst unvermindert weiter – trotz einiger Probleme mit der Polizei: In Texas und Oregon wurden Demonstranten verhaftet, in Denver kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, obwohl die Versammlungsfreiheit in der Verfassung garantiert wird. Als am Mittwoch vergangener Woche die Polizei von Oakland im US-Bundesstaat Kalifornien eine Besetzung beenden wollte, erlitt einer der Demonstranten, Scott Olson, durch ein Geschoss eine Schädelfraktur. Olson ist Kriegsveteran, er war beim 3. Bataillon der US-Marines. Sein Kamerad, der ehemalige Soldat und Friedensaktivist Keith Shannon, sagte der Jungle World: »Es ist schrecklich. Scott hat zwei Einsätze im Irak überlebt. Er kam unverletzt zurück, und dann wurde er bei einem friedlichen Protest von der Polizei angeschossen.« Die Bürgermeisterin von Oakland, Jean Quan, vereteidigte den Ort dagegen als eine »progressive Stadt«, und der Rücktritt des Polizeipräsidenten Howard Jordan wurde bereits gefordert.
Olson ist inzwischen zum Symbol des Widerstands geworden. »Ich finde es großartig«, sagt Shannon, »dass die Demonstranten nach all der Gewalt zurückkehren. Das halte ich für sehr wichtig. Sie werden dadurch nur stärker.«

In vielen Städten der USA finden Solidaritätskundgebungen statt. In Los Angeles wurde bereits vor vier Wochen eine Zeltstadt auf dem Rasen vor dem Rathaus errichtet, jetzt kommen noch weitere Demonstrationen »für Oakland« hinzu. Es gibt Gebete, Musik, Trommeln und eine beachtliche Anzahl an Touristinnen und Touristen mit Fotoapparaten. Latinos oder Schwarze sieht man hingegen nur vereinzelt, eine multikulturelle Veranstaltung ist »Occupy LA« nicht gerade. Insgesamt leben mehr als 300 Menschen seit vier Wochen hier – genau gegenüber vom Polizeihauptquartier. »Die Cops wissen, dass sie auch zu den 99 Prozent gehören«, sagt Michelle Watson, eine 44jährige Besetzerin. Sie ist von Anfang an dabei und für die Essensverteilung im Zeltlager verantwortlich. »Noch haben sie einen Job«, sagt Watson, »aber das kann morgen schon anders sein.« Die Polizei von Los Angeles lasse die »Occu­py«-Bewegung in Ruhe, in anderen Städten sei das nicht so. Watson ist hier, weil sie »die Nase voll davon hat, wie die Dinge im Land laufen«. Besonders trifft es sie, dass es kein öffentliches Gesundheitssystem gibt. »Ich habe Krebs im fortgeschrittenen Stadium«, sagt sie. »Die Ärzte räumen mir keine Chance ein. Ich bin schon halb tot.« Eine Krankenversicherung kann sie sich nicht leisten. Also sitzt sie hier und demons­triert. Jeder Tag könnte der letzte sein.
Ein Mädchen verteilt Handzettel, auf denen steht, wie man mit der Polizei umgehen sollte: höflich bleiben, keine hastigen Bewegungen machen, sich im Ernstfall verhaften lassen und auf einen Anwalt bestehen. Viele der Besetzer haben Macbooks und Smartphones dabei, even­tuelle Zusammenstöße könnten in Echtzeit auf Websites wie Qik oder Ustream hochgeladen und auf Servern gespeichert werden. Die Demonstranten haben die Technologie auf ihrer Seite. »Wenn wir verhaftet werden«, sagt Watson, »ist uns das auch egal. Dann gehen wir halt in den Bau. Und wenn sie uns rauslassen, kommen wir wieder.«