Die Reform des Vergewaltigungsparagraphen

Nein sagen reicht nicht

Der Rechtsausschuss des Bundestags diskutiert über eine Reform des Vergewaltigungsparagraphen.

Ein Mann, der einer Frau in der U-Bahn unter den Rock greift und den Finger in ihre Scheide schiebt. Ein Lehrer, der eine 18jährige Schülerin befummelt, die Tür hat er abgeschlossen, der Schlüssel steckt, die junge Frau weint und zittert, versucht aber nicht, den Raum zu verlassen, und wehrt sich auch nicht. Vier Männer, die auf einer Party eine Frau bedrängen, schließlich der Reihe nach Geschlechtsverkehr mit ihr haben, während sie immer wieder sagt, dass sie das nicht möchte und weint. Alle drei Frauen wenden sich danach an Rechtsanwälte. Aber die können von einer Anzeige nur abraten: Die Männer haben sich nicht strafbar gemacht.
Diese Fälle schildert die Rechtsanwältin Christina Clemm in ihrer schriftlichen Stellungnahme für den Rechtsausschuss des Bundestags, der am Mittwoch voriger Woche darüber diskutierte, ob das Sexualstrafrecht geändert werden muss. Clemm kennt die Fälle aus ihrer eigenen Praxis oder aus Berichten von Kolleginnen. Sie gehört zu denen, die Änderungen fordern: Für sie ist es »offensichtlich«, dass das deutsche Sexualstrafrecht der Änderung bedarf. Das sehen nicht alle Rechtsexperten so.

Hintergrund der Debatte ist das »Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt«, die sogenannte Istanbul-Konvention. Deutschland hat das Abkommen unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Nun prüft die Bundesregierung, inwieweit deutsches Recht angepasst werden muss, um die Vorgaben zu erfüllen. Die Konvention verpflichtet die Mitgliedstaaten, »nicht-einvernehmliche sexuelle Kontakte« zu bestrafen. Im deutschen Strafrecht steht aber nirgendwo, dass es verboten sei, sexuelle Handlungen an einer Person gegen deren Willen vorzunehmen. Eine sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung liegt nur vor, wenn Gewalt angewendet wird, wenn der Täter dem Opfer mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben droht oder wenn er eine schutzlose Lage des Opfers ausnutzt.
Im Rechtsausschuss wurde nun ein Antrag der Grünen diskutiert, mit dem die Regierung aufgefordert wird, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen. Justizminister Heiko Maas (SPD) hatte sich lange ablehnend gezeigt, inzwischen ist er bereit, Reformen zu prüfen. Während Juristinnenverbände und Menschenrechtsorganisati­onen schon lange Änderungen fordern, halten andere Rechtsexperten die bestehende Regelung für ausreichend. Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof und einer der bekanntesten deutschen Strafrechtler, warnt davor, vorschnell Strafbarkeitslücken zu diagnostizieren. Es komme zwar vor, dass Gerichte unzutreffende Entscheidungen fällen, so Fischer in seiner Stellungnahme. »Es mag dann im Einzelfall Anlass zur Kritik bestehen. Hieraus ergibt sich aber keine ›Lücke‹ des Gesetzes.«
Der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe hat 107 solcher »Einzelfälle« aus den Jahren 2004 bis 2014 gesammelt. Nach Ansicht des Verbands zeigen sich dabei durchaus typische Konstellationen, in denen sich Täter über den Willen des Opfers hinwegsetzen und dennoch unbestraft bleiben. Juristisch lässt sich über solche Fälle streiten. Politisch geht es aber auch um ein Signal, sexuelle Selbstbestimmung umfassend zu schützen. Der überzeugendste Vorschlag für eine neue Formulierung stammt von der Berliner Strafrechtsprofessorin Tatjana Hörnle, die ein Gutachten für das Deutsche Institut für Menschenrechte erstellt hat. Demnach würde sich strafbar machen, wer »gegen den erklärten Willen einer anderen Person oder unter Umständen, in denen fehlende Zustimmung offensichtlich ist, sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder an sich vornehmen lässt«.
Das hätte allerdings weitreichende Folgen. Um den bisherigen Regelungen nicht in die Quere zu kommen, müsste das gesamte Sexualstrafrecht neu geregelt werden, also auch der Bereich des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen. Ein Thema, bei dem mit heftigen öffentlichen Reaktionen zu rechnen ist. Dabei ist die Forderung, im Sexualstrafrecht konsequenter vorzugehen, kein populistischer Ruf nach Strafverschärfung. Im Gegenteil, schreibt Clemm: »Nicht die Reformierung einer bis ins Mittelalter zurückreichenden Struktur des Tatbestandes der Vergewaltigung, sondern deren Beibehaltung ist illiberal.«