Ohne Scham

Als Taslima Nasrin ihren Roman »Lajja« (Scham) 1993 veröffentlichte, konnte sie nicht ahnen, was sie damit auslöste. In ihm beleuchtet sie das Verhältnis zwischen der hinduistischen Bevölkerungsminderheit und der muslimischen Mehrheit in ihrem Herkunftsland Bangladesh. Das Buch wurde von der Regierung verboten. Weltweite Aufmerksamkeit erfuhr die heute 52jährige, als die islamistische Gruppe »Rat der Soldaten des Islam« im Oktober 1993 eine Todesfatwa wegen »Blasphemie« gegen sie verhängte. Auf Einladung des schwedischen PEN-Clubs und mit Hilfe der schwedischen Regierung ging sie 1994 ins Exil. Ende Mai haben die USA die Schriftstellerin aufgenommen. Zuletzt hatte sie in Indien gelebt, wo sie erneut Morddrohungen erhalten hatte. Der Direktor der Organisation Center of Inquiry (COI), Michael de Dora, warnte: »In den vergangenen Wochen haben die Drohungen massiv zugenommen.« Ernstzunehmen sind sie allemal, in Bangladesh wurden in diesem Jahr bereits drei religionskritische Blogger brutal ermordet. Im Februar wurde der Blogger Avijit Roy von Islamisten in der Hauptstadt Dhaka auf der Straße zu Tode gehackt, seine Frau verletzt. Im März wurde der Blogger Washiqur Rahman auf dieselbe Weise getötet, im Mai traf es den atheistischen Blogger Ananta Bijoy in der Stadt Sylhet. Auf ihrem Blog veröffentlichte Nasrin Ende Mai einen Twitterpost: »Heute morgen wurde erneut ein freidenkerischer Blogger in Bangladesch zu Tode gehackt. Bangladesch ist schlimmer als Pakistan.«
Nasrin tritt für die Gleichberechtigung von Frauen ein und wendet sich gegen die Unterdrückung nichtislamischer Minderheiten in islamisch geprägten Gesellschaften. Bereits mit 13 Jahren veröffentlichte Nasrin erste Gedichte. Trotz ihrer literarischen Neigungen absolvierte sie auf Drängen ihres Vaters ein Medizinstudium und arbeitete anschließend als Anästhesistin im Medical College von Dhaka. Ihre dortigen Erfahrungen mit Vergewaltigungsopfern und mit Frauen, die wegen der Geburt einer Tochter die Scheidung befürchteten, führten zum publizistischen Engagement der Autorin. Ihr über 20jähriges Exil verbrachte sie in verschiedenen Ländern. Die Organisation CoI teilte mit, das Nasrin bereits vorvergangene Woche unter Ausschluss der Öffentlichkeit in New York eingetroffen sei. Die Autorin twitterte, dass sie nach Indien zurückkommen werde, sobald sie sich wieder sicher fühle.