Raucherecke: »Nuit debout« in Berlin

Aufrecht durch die Nacht wedeln

In Berlin entsteht ein deutscher Ableger der französischen »Nuit Debout«-Bewegung. Gegen »neoliberale Politik« soll es gehen – was das bedeutet, bleibt nebulös.

Symbolträchtig wählte man die Stufen vor dem Bethanien als Ort. Ein Nebengebäude des ehemaligen Krankenhauses in Berlin-Kreuzberg wurde 1971 besetzt und später von der Band Ton Steine Scherben als Rauch-Haus besungen. »Der Mariannenplatz war blau, soviel Bullen waren da«, hieß es in dem Lied. Am Samstag hielt die Berliner Gruppe von »Nuit Debout« auf dem Mariannenplatz ihr »General Assembly« genanntes Plenum ab. »Nuit Debout« (etwa: Aufrecht durch die Nacht) ist eine französische Protestbewegung, die jeden Abend seit dem 31. März Tausende Demonstranten gegen geplante Änderungen des Arbeitsrechtes mobilisiert (siehe Seite 13).
Den Hype, den die Bewegung in Frankreich erlebt, wollen die Aktivisten, von denen ein nicht unwesentlicher Teil aus Frankreich kommt, nach Deutschland tragen. Am Samstag fanden sich rund 100 Personen, meist Schüler und Studierende, zum dritten Treffen der Berliner Gruppe ein. In der zweiminütigen Begrüßungsrede stellte man sich in eine Reihe mit der »Occupy«-Bewegung, den Gezi-Park-Protesten in Istanbul, dem »arabischen Frühling« und einigen südeuropäischen Protestbewegungen gegen Sparmaßnahmen. Statt politischer Forderungen oder Analysen vermittelten die Sprecher aber lediglich das dumpfe Gefühl, dass irgendetwas schief laufe und die Regierung daran schuld sei. Anschließend wurden etwa zehn verschiedene Handzeichen vorgestellt, mit denen man nonverbal kommunizieren könne, ohne den Redner zu unterbrechen. So gewappnet, führten die Berliner »Aufrechten« zwei Stunden lang lebhafte Debatten mit vielen sich drehenden, wedelnden und überkreuzten Armen darüber, wie man miteinander zu reden gedenke. Als man sich nach einer knappen halben Stunde und drei Abstimmungen nicht darauf verständigen konnte, ob man mit einer Frauenquote für die Redebeiträge arbeiten wolle oder nicht, und wenn ja, wie diese auszusehen habe, einigte man sich getreu dem Motto »Wenn du nicht mehr weiter weißt, gründe einen Arbeitskreis« darauf, diese Frage an eine noch zu gründende »Gender Commission« zu übergeben. Auch Ideen für andere Kommissionen wurden diskutiert: Eine »Community Commission« könne Essen kochen und eine »International Commission« müsse schnell her, da man ohne sie keine Möglichkeit habe, mit Frankreich zu kommunizieren. Als es um die Frage ging, ob man sich an der »revolutionären 1. Mai-Demonstration« im » … für alle«-Block der Interventionistischen Linken beteiligen wolle, sagte eine Aktivistin, sie ziehe es vor, dass die Bewegung ein »non-political movement« bleibe. Da man sich zuvor auf Vorschlag der »Communication Commission« darauf verständigt hatte, dass niemand für die Gruppe als ganze sprechen solle, sondern jeder für sich selbst, einigte man sich in dieser Frage darauf, dass einige an der Demonstration teilnehmen und andere nicht.
In der »Ideology Commission«, die nach dem Plenum tagte, wurde zunächst debattiert, ob »Ideology Commission« ein guter Name sei. Als Alternative wurde »Happy Nights« vorgeschlagen (worauf hin einige Leute als Zeichen der Zustimmung mit ihren Händen neben ihrem Kopf wedelten, andere aber Unverständnis signalisierten). Das Problem am Namen »Ideology Commission« war, dass er nicht offen genug sei, immerhin habe man als Gruppe keine einheitliche Ideologie und jeder Teilnehmer dürfe so viele Ideologien haben, wie er wolle. Die Lösung lag erstaunlich nah: Man bildete den Plural und konnte fortan als »Ideologies Commission« die drängenden – nach der Namensfindung war die Zeit knapp – Fragen diskutieren, welchen Ideologien die Teilnehmenden anhängen. »Was ist eure Ideologie und welche Nation ist eine Inspiration für eure Ideologie?« fragte der selbsternannte Koordinator mehrfach. Eine antwortete: »Ich glaube, wir brauchen ein bisschen mehr Sozialismus. Vielleicht wie in Skandinavien, ich habe gehört, das Gesundheitssystem ist dort gut.« Auf die Frage, ob es eine Position oder Analyse gebe, die alle Teilnehmenden teilen würden, wurde nach etwas Überlegung abgefragt, ob alle Anwesenden »grundsätzlich gegen neoliberale Politik« seien, woraufhin es keinen verbalen oder nonverbalen (gekreuzte Arme vor dem eigenen Gesicht) Widerspruch gab.
Zwei Polizisten beobachteten das Geschehen aus der Ferne. Blau wurde der Mariannenplatz an diesem Abend nicht. Es gab ja auch keinen Anlass dafür.