Das ambivalente Verhältnis der libanesischen Protestierenden zur Hizbollah

Die Partei Gottes und die Linke

Seit Mitte Oktober dauern die Demonstrationen gegen die politische Führung, Misswirtschaft und Korruption im Libanon an. Zwar richtet sich der Protest gegen alle Parteien, doch die Hizbollah, in der viele linke Libanesen einst eine verbündete Kraft im Kampf gegen Unter­drückung und Imperialismus erblickten, zieht immer größeren Unmut auf sich. Das Feindbild Israel teilen die meisten aber weiterhin mit ihr.
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Es ist Samstagabend, der 14. Dezember, in der Beiruter Innenstadt. Zahlreiche Protestierende versammeln sich erneut in der Nähe des Parlaments, um ihren Frust über die Regierung auszudrücken. Die Polizei drängt sie ab, am Platz der Märtyrer kommt es zu Ausschreitungen und dem Einsatz einer erheblichen Menge von Tränengas. Filmaufnahmen, die den Abschuss Dutzender Tränengaskanister zeigen, verbreiten sich anschließend in den sozialen Medien. Unterlegt mit dem Hit »Happy New Year« der schwedischen Band Abba erlebt Libanons Protestbewegung hier ihr vorgezogenes Silvesterfeuerwerk.

»Wir unterstützen die Hizbollah im Kampf gegen Israel und alle anderen Imperialisten, aber ihr religiöses Gesellschaftsbild teilen wir nicht.« Yussuf, Demonstrant

Doch die Demonstrierenden haben es in dieser Nacht nicht bloß mit der Polizei zu tun. Denn wer sich gegen die Regierung stellt, stellt sich auch gegen die »Partei Gottes«. Es vergeht nicht viel Zeit, bis sich die schwarzgekleideten Anhänger der schiitischen Parteien Amal und Hizbollah versammeln, um die Protestierenden, die die Beiruter Ringbrücke besetzt halten, zu attackieren. Beirut erlebt in dieser Nacht die bislang schwersten Auseinandersetzungen. Das libanesische Rote Kreuz vermeldet 46 verletzte Demonstranten und Polizisten.

»Partei der kleinen Leute«
Tags darauf machen Salwa und Yussef, zwei Linke, die sich in einem Organisationskomitee der Proteste engagieren, und ich einen Spaziergang durch Basta, einen Bezirk im Herzen Beiruts. Zahlreiche Trödelläden und Geschäfte für Kleinwaren säumen die Straßen des Viertels, in dem viele Schiiten leben. An vielen Hausfassaden wehen die Fahnen des »schiitischen Duos«, der Amal-Bewegung und der Hizbollah. An einer Wand hängt ein Plakat mit dem Konterfei Hassan Nasrallahs, des Generalsekretärs der Hizbollah. »Ich habe ihn einst verehrt«, sagt Salwa, »ihn und die Hizbollah. Denn der Mann hat Eier.« Auf die Frage, was sie damit ­meine, antwortet sie: »Nasrallah beschützt uns Libanesen vor unseren Feinden. Das sind die Israelis. Die Hizbollah hat sie 2000 hinausgeworfen und auch 2006, als sie mein Dorf bombardiert haben, hat die Hizbollah den Israelis eine Lektion erteilt.« Außerdem stelle sich nur die Hizbollah der Einflussnahme der US-Amerikaner entgegen und setze sich für die Palästinenser ein. »Wir unterstützen die Hizbollah im Kampf gegen Israel und alle anderen Imperialisten, aber ihr religiöses Gesellschaftsbild teilen wir nicht«, fügt Yussuf hinzu. Man müsse außerdem wissen, dass die Hizbollah die »Partei der kleinen Leute«, der einkommensschwachen Schiiten sei, ­ergänzt er.

Doch seit dem Ausbruch der Revolte hat sich das Bild der beiden von der Hiz​bollah verändert. Die Partei Gottes sei zu einer »Systempartei« geworden, sagen sie. Sie stelle sich den Forderungen der Protestierenden entgegen, auch mit Gewalt.

Vom Klassenkampf zur Konterrevolution
Viele libanesische Linke erleben, wie die Hizbollah sich selbst entzaubert. Zwar befürworten sie einerseits den Kampf der Hizbollah gegen, wie sie sagen, Neokolonialismus, Imperialismus und Israel, doch sie und die Protestbewegung werden zurzeit selbst zum Ziel der Partei Gottes. In den Augen der Hizbollah sind die Proteste von »ausländischen Botschaften« gesteuert. Parteinahe Medien dämonisieren die Demonstrierenden. Vier Redakteurinnen und Redakteure der Zeitung Al-Akhbar, der Hauspostille der Hizbollah, warfen im November wegen der einseitigen Berichterstattung hin. Die Redakteurin Joy Slim schrieb auf Facebook: »Ich war enttäuscht, wie das Blatt den Aufstand darstellt, nachdem ich monate-, vielleicht jahrelang daran gearbeitet hatte, zu zeigen, dass er ­geschehen musste. Als es dann losging, hat sich die Zeitung sofort der Konterrevolution angeschlossen. Sie erdachte eine aufrührerische Verschwörung und Gerüchte, die das, was heute auf der Straße geschehen ist, befeuert ­haben.«

Die Darstellung der Proteste als Resultat einer ausländischen Verschwörung missfällt zahlreichen libanesischen Reporterinnen und Reportern. Ebenfalls im November verließen der bekannte Fernsehjournalist Sami Kleib und seine nicht weniger bekannte Kollegin Lina Zahreddine den der Hizbollah nahestehenden Fernsehsender Al-Mayadeen. Kleib schrieb auf Twitter: »In Übereinstimmung mit meinen Gedanken, Auffassungen und meinem Gewissen verlasse ich heute al-Mayadeen TV.«

Dabei war das Image der Partei Gottes einst ein anderes. Die bisherige Beliebtheit der Partei Gottes bei Linken im Libanon – und darüber hinaus – hat vielerlei Gründe: Dazu zählen der selbsterklärte Kampf der Partei gegen Neokolonialismus, US-Imperialismus und Zionismus sowie der Wegfall der Sowjetunion als ideologischer Bezugspunkt für die Linke und die Suche nach einer Alternative dazu in den neunziger Jahren. Zudem inszenierte sich die Partei Gottes von Anfang an als Kämpferin für die Unterdrückten und sie erhielt dabei Unterstützung linker Theoretikerinnen und Theoretiker, die den Kampf der Hizbollah zum Klassenkampf erklärten.

Die Schiiten im Libanon wurden über Jahrzehnte marginalisiert und waren im politischen System unterrepräsentiert. Sie waren meist Bauern und Arbeiter mit geringem Einkommen. Die Gegenden, in denen sie lebten, wurden vom Staat vernachlässigt, Analphabetismus und Arbeitslosigkeit grassierten. Christen und Sunniten hingegen waren politisch und wirtschaftlich bessergestellt. Erst 1974 verlieh der Prediger Musa al-Sadr den Schiiten eine Stimme und sammelte sie in der »Bewegung der Entrechteten« (Harakat al-Mahrumin). In den achtziger Jahren entstand mit iranischer Unterstützung eine neue schiitische Kraft im Libanon, die Hizbollah. Sie gab vor, in der Tradition al-Sadrs für die benachteiligten Schiiten einzutreten. Zudem stand sie für einen bedingungslosen Kampf gegen die israelische Kontrolle über den Südlibanon.

Die Hizbollah sieht in ihrem Manifest von 2009 »verheerende kapitalistische Kräfte, angeführt von den USA« und »verkörpert durch Netzwerke internationaler Monopole« hinter dem Konflikt »zwischen Armut und Wohlstand«. Bereits in ihrem 1985 veröffentlichten »Offenen Brief«, der als Gründungsmanifest gilt, benannte die Hizbollah den libanesischen Konfessionalismus als eine Grundursache für die soziale Ungleichheit im Land. Die politische Macht im Libanon ist nach religiöser Proporz aufgeteilt und privilegiert die Anführer einzelner Konfessionsgruppen. Die Hizbollah erklärte, das System »konfessioneller Privilegien in Allianz mit dem Kolonialismus« abschaffen zu wollen. Mit markiger Rhetorik inszenierte sich die Partei Gottes als Kämpferin für Libanons mahrumin (Entrechtete).

Doch erst mit dem Konzept der »community class« versuchten Linke in den späten achtziger Jahren, den libanesischen Bürgerkrieg (1975 bis 1990) in Kategorien des Klassenkampfes zuerklären. Den maoistischen Intellektuellen Mohsen Ibrahim und Fawwaz Traboulsi zufolge galten die Christen des Libanon, da sie die Mehrheit in der ökonomischen Führungsschicht stellten, als Bourgeoisie. Demgegenüber machten die Muslime, insbesondere die Schiiten, die Mehrheit der Arbeiterklasse und Besitzlosen aus. Folglich konnte das Aufbegehren der Schiiten als Klassenkampf gedeutet werden. Die Theorie der »community class« fand innerhalb der Libanesischen Nationalbewegung (LNM) und der Kommunistischen Partei großen Zuspruch. Es war eine theoretische Vorgabe, die die Partei Gottes rhetorisch für sich zu nutzen wusste, ohne ihr praktisch nachzukommen. Denn die Hizbollah lehnte Marxismus und Kommunismus strikt ab.

Entzauberung der Partei
Der Frust über die Hizbollah wegen ihrer Opposition zur derzeitigen Protestbewegung erschüttert den Parteimythos. Scheint es einigen Linken zurzeit bewusst zu werden, zweifeln andere seit jeher an der vermeintlichen Progressivität der Partei Gottes. Am Platz der Märtyrer in der Beiruter Innenstadt beschreibt der Demonstrant Marwan das gesellschaftliche Ideal der Hizbollah so: »Wenn es gegen Israel geht, das ist das eine, da bin ich dafür. Aber innenpolitisch war die Hizbollah stets reaktionär. Womit wollte sie denn den Konfessionalismus ersetzen? Mit einem islamischen Gottesstaat à la Iran!« Außerdem habe die Hizbollah von Beginn an gegen Kommunisten und Sozialisten gekämpft und ihre Anführer ermordet. »Das geschah schon in den achtziger Jahren. Kommunismus ist für sie Häresie, das passt nicht in ihre Weltanschauung«, ergänzt Paul, ein linker Künstler. Marwan weist auf das traditionelle Geschlechterbild hin, das die Hizbollah predigt: »Geht es nach ihnen, wird es nur noch Husseins und Zeinabs geben.« In der schiitischen Überlieferung steht Hussein für den starken, gütigen Mann, während Zeinab die umsorgende, treue Frau versinnbildlicht.

Inwieweit ist das Image der Hizbollah als antibourgeois gerechtfertigt? In vielen Ländern paktieren religiöse Bewegungen mit der kapitalistischen Führungsschicht. Im Libanon steht dafür exemplarisch die Entwicklung des vorwiegend von Schiiten bewohnten Beiruter Vororts Dahieh, einer Hochburg der Hizbollah. Die Gentrifizierung ist hier deutlich sichtbar und das Straßenbild könnte widersprüchlicher kaum sein. Zwischen heruntergekommenen Fassaden stehen ein protziges Hochhaus und ein teures Einkaufszentrum. Der Zeitung al-Akhbar zufolge akkumulieren die Beiruter Vororte mehr als 30 Prozent der inländischen Kaufkraft. Damit sich reiche Schiiten hier niederlassen, beschneidet die Partei Gottes den Mieterschutz. Abgeordnete der Hizbollah votierten 2014 für die Aufhebung fixer Mieten bei Sozialbauten. Etwa 10 000 einkommensschwache Familien in Beirut sind von dieser Maßnahme betroffen. Können sie die Miete nicht mehr zahlen, droht ihnen die Zwangsräumung. Die meisten jungen Menschen in Dahieh hätten kein Auto, während die Söhne von Hizbollah-Offiziellen brandneue, teure Wagen führen, hieß es etwa zur Diskrepanz der Lebensumstände in Dahieh in einem Interview der Online-Zeitschrift »Now« im Jahr 2016 mit dem 18jährigen Bewohner Karim.

Die Hizbollah und die Arbeiter
Simon, ein ehemaliger Gewerkschafter, kennt sich mit der Haltung der Hizbollah zur Arbeiterbewegung aus. Das Gespräch findet im Café Abou Elie statt, einem bekannten Treffpunkt für Linke in Beirut. Simon zufolge hat sich die Hizbollah schnell von ihrer eigentlichen Gefolgschaft, der schiitischen Unter- und Mittelschicht, ab- und der schiitischen Oberschicht zugewandt. Die Hizbollah habe ein Netzwerk aus großen Unternehmen um sich geschaffen, deren Leiter die Partei Gottes förderten oder selbst Mitglied seien. »Die Hizbollah tut alles, um ihnen Vorteile zu verschaffen. In der Regierung blockiert die Hizbollah zusammen mit anderen Parteien regelmäßig Gesetze, die die Rechte der Arbeiter stärken. Als die Angestellten der staatlichen Elektrizitätswerke 2012 gegen Entlassungen und für bessere Arbeitsbedingungen kämpften, unterstützte die Hizbollah die Privatisierungspläne des damaligen Energieministers Gebran Bassil. Als die Lehrer 2014 auf die Straße gingen und für höhere Löhne eintraten, stellte sich die Hizbollah gegen die Proteste«, so Simon.

Um die Arbeitnehmerrechte ist es im Libanon allgemein schlecht bestellt. Es gebe keine einflussreiche Gewerkschaft mehr, sagt Simon. Die einst starke CGTL, der libanesische Gewerkschaftsbund, sei von den Parteien unterwandert worden. »Die Hizbollah und die anderen Parteien haben ihre Gewerkschaften der CGTL beitreten lassen, bis sie eine Mehrheit hatten. Seither vertritt der Gewerkschaftsbund nur noch die Interessen der Unternehmer.«

»In der Regierung blockiert die Hizbollah zusammen mit anderen Parteien regelmäßig Gesetze, die die Rechte der Arbeiter stärken.« Simon, ehemaliger Gewerkschafter

Ähnlich ergeht es den Bauern der Bekaa-Ebene. An einem Protestzelt am Platz der Märtyrer sagt der Demonstrant Mohammed, die Hizbollah räume den Interessen der großen landwirtschaftlichen Betriebe die höchste Priorität ein. Die kleinen Bauern hätten das Nachsehen. Hussein Hajj Hassan von der Hizbollah, der derzeitige Industrieminister, habe in seiner vorherigen Amtszeit als Landwirtschaftsminister (2009 bis 2014) Kleinbetriebe »systematisch benachteiligt und ihnen Lizenzen und finanzielle Unterstützung verweigert«, so Mohammed.

Propagierte die Hizbollah in ihrem Gründungsmanifest noch die Abschaffung des libanesischen Konfessionalismus als eines ihrer Ziele, ist sie längst zu einer rigorosen Verteidigerin konfessioneller Privilegien geworden. Damit steht sie in direktem Gegensatz zu den Hauptzielen der libanesischen Revolte, die dieses System überwinden möchte. Schaut man auf die Praktiken der Partei Gottes, so standen diese stets in Kontrast zu ihrer Rhetorik. Die Interessen der unteren Schichten waren oftmals nicht die ihren. Der Bevölkerung mehr Macht zu gewähren, widerstrebt der Hizbollah, wie man bereits während des »arabischen Frühlings« sowie bei den Protesten 2015/2016 gegen die Müllkrise im Libanon (Jungle World 11/2019) sah.

Das Image der Hizbollah bei libanesischen Linken konnte das nicht nachhaltig beschädigen. Vielleicht ändert sich das im Zuge der aktuellen Proteste.

Der Tod Qasem Soleimanis Anfang Januar erfüllt viele Protestierende mit Sorge, da sie ein Überschwappen der Konfrontation zwischen den USA und dem Iran in den Libanon befürchten, sollte das iranische Regime seinen Stellvertreter, die Hizbollah, aktivieren. Außerdem verschiebt sich, zumindest derzeit, die Aufmerksamkeit der Medien hin zum Irak, wodurch die libanesischen Proteste an Stellenwert einbüßen, was die Protestbewegung unzufrieden stimmt.