IMPRINT Abdruck aus: "Für eine alternative Moderne. Studien zu Krise, Kultur und Mestizaje"

Die andere kritische Theorie

Sein Interesse für das Denken Martin Heideggers hatte den in Ecuador geborenen Theoretiker Bolívar Echeverría zunächst nach Freiburg geführt. In Berlin wurde er ein Mitstreiter von Rudi Dutschke. Bolívar Echeverrías Werk verbindet kritische Gesellschaftstheorien Europas und Lateinamerikas.
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Wenn es darum geht, sich dem Dialog zwischen der kritischen Gesellschaftstheorie in Europa und Lateinamerika zu nähern, ist Bolívar Echeverría (1941–2010) eine Schlüsselfigur. Er wurde in Ecuador geboren, in Deutschland in den sechziger Jahren nachhaltig philosophisch geprägt und avancierte dann in Mexiko zu einem der bedeutendsten zeitge­nössischen Philosophen Lateinamerikas. Mit seinen Übersetzungen und Essays trug er nicht nur zur Rezeption von Karl Marx, Rosa Luxemburg, Walter Benjamin, Jean-Paul Sartre, Max Horkheimer oder Georg Lukács und anderen in Lateinamerika bei. Er erneuerte und aktualisierte auch einige der Thesen dieser Autorinnen und Autoren, indem er ihre Gesellschaftskritik zu erweitern suchte und darauf aufbauend eigene Thesen zum kritischen Verständnis der kapitalistischen Moderne und ihrer besonderen Verwirklichung in Lateinamerika entwarf. Aus dem europäischen Raum griff er dafür unter anderem auf die Anthropologie Georges Batailles, die Sprachwissenschaft Ferdinand de Saussures und die Semi­otik Roman Jakobsons, das Geschichtsverständnis der Annales-Schule, die Soziologie Jean Baudrillards und die Psychoanalyse Sigmund Freuds ­zurück. In der lateinamerikanischen Philosophie und Kulturtheorie wiederum, insbesondere den Arbeiten der kubanischen Literaten und ­Essayisten Severo Sarduy und José Lezama Lima sowie des kolumbia­nischen Kulturtheoretikers Carlos Rincón, fand er Inspiration für den in seiner Philosophie zentralen Barockbegriff. Echeverrías Beobachtungen und Analysen der Alltagskultur, der Kunst oder der Sprache sind dabei weit entfernt davon, in den Lebens­realitäten der modernen oder sich modernisierenden Gesellschaften euphorisch Horte des »Widerstands« auszumachen. Stattdessen bleiben sie stets einer konsequenten Kritik der Unfreiheit und dem Streben nach einer befreiten Gesellschaft verpflichtet.

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