1. Mai, alles Vorbei

Ein Spiel fasziniert schon seit Jahren die Computergemeinde: Lemminge. Da schickt man eine Horde kleiner Wesen durch schier ausweglose Labyrinthe, läßt sie sich mit Sprengsätzen Wege bahnen, und wenn ein paar durchkommen, und nicht von eigenem Dynamit oder fremden Mächten eliminiert werden, ist man der Held.

Die Antifaschistische Aktion Berlin hat sich zum 1. Mai am Joystick versucht - Antifa goes Cyberspace - und wurde zu so einem Spiele-Helden. Mehr als 90 Prozent der akquirierten Leute kamen durch. Glanzleistung in der Pixelwelt.

Unter dem Blickwinkel linker Politik muß man das diesjährige Geschehen zur Ostberliner Maidemo allerdings als Desaster werten. Über 400 Verhaftungen sind das traurige Resultat. Die Revolution vom Rosa-Luxemburg-Platz ist einmal mehr niedergeschlagen worden, und so richtig wundert es niemanden.

Militantes Aufbegehren gegen Staat und Kapital mag ja einen gewissen Charme haben, und ist der Versuch auch strafbar, so ist er doch nicht unsympathisch. Aber das große Kapital war im Prenzlauer Berg gerade nicht zu finden, und so mußten ebenso unschuldige wie versicherte Fensterscheiben dran glauben.

Physikalischen Gesetzten folgend waren die Schädel der Aktivisten nicht weniger anfällig für rohe Gewalt. Dies konnten sich die knüppelschwingenden Polizisten zu Nutze machen. "Wir haben nur Schönbohms Linie befolgt." war alles, was ein Polizeisprecher zum Einsatz der Truppen des Generals zu sagen hatte. Merke: Der direkte militärische Vergleich, wenn man ihn so nennen will, ging wieder zu Gunsten des Staates aus.

Der Anspruch der Demoorganisatoren war ja lobenswert: Wahrnehmbarkeit für linksradikale Politik sollte geschaffen werden: "medial, gesellschaftlich, weltweit". Was in den Werbeunterlagen der AAB so großartig klingt, konnten manche - der Autor schließt sich ein - schon im Vorfeld kaum glauben.

Bereits die Ankündigungen zur Demonstration sind mit Schlachtparolen überladen, Bilder auf den Flugblättern und Plakaten zeigen Kämpfer in Aktion, mit geballten Fäusten, in denen sich auch Steine und Brandbeschleuniger befinden können. Silhouetten lassen viel erahnen.

Vielleicht sollte man künftig ein paar Gänge runterschalten: Keine Revolution findet ohne revolutionäre Situation statt. Deshalb sind Kräftevergleiche mit Schönbohms Mannschaften heute eher Suizidveranstaltungen der Restlinken als politische Offensiven.

Diese maßlose Überschätzung der eigenen Stärke und Bedeutung ist kaum verwunderlich: Gerade bei den Truppen von AAB & Co. findet man selten einen kritischen Umgang mit eigenen Inhalten und Praktiken. Realitätsverlust beginnt dort, wo man sich selbst nicht mehr hinterfragt. Aber wer tut das schon, wenn Partei und Organisation immer recht haben.

Die radikale Linke hat sich nicht ohne Grund in den letzten Jahren auf einen Bruchteil verkleinert. Viele sind ins Privatleben abgetaucht, junge Leute finden kaum einen Weg in die autistische Szene. Das hat nicht nur mit subkulturellem Szenemief und oberkorrektem Gehabe zu tun, sondern auch mit mangelnden geistigen Bemühungen um politische Inhalte, die sich verändernde gesellschaftliche Bedingungen reflektieren.

Auch wenn der Antifaschismus der letzte gemeinsame Nenner verschiedener Linker ist und deshalb alle Hoffnungen auf sich zieht, so reicht eine Kombination aus Anti-Nazi-Kampf und Revolutionsromantik nicht aus. Schon lange geht es nicht mehr nur um ein paar durchgeknallte Naziskins oder um ein paar zu erkämpfende Freiräume. Die Rechte hat eine soziale, politische und kulturelle Bewegung entfaltet, die tief in der Gesellschaft greift. Rassismus und Volksgemeinschaft finden in NPD und DVU nur ihre Speerspitzen. Wo aber kann man noch intervenieren? Mit wem agiert man, wenn das erhoffte revolutionäre Subjekt zum rassistischen Pöbel wird? Gesellschaftsanalyse muß immer vor radikaler Kritik stehen, um aus dieser Kritik auch politisches Handeln entwickeln zu können.

Der Abend des 1. Mai in Prenzlauer Berg: Während die Demonstranten im Dutzenderpack auf Polizeiwachen und Krankenhäuser verteilt werden und die übrigen sich in den Seitenstraßen und Hinterhöfen aufreiben lassen, rollen die ersten Touristenbusse zur Besichtigung des Abenteuerspielplatzes durch den Kiez.

Gleiche Zeit, anderer Ort, keine fünfzig Kilometer vor Berlin. In einer Kleinstadt sitzen die Bewohner eines alternativen Wohnprojektes hinter abgedunkelten Scheiben und warten. Nicht auf die Revolution, die findet heute woanders statt. Nein, hier wird ein Naziangriff befürchtet. Sogar ein paar Leute aus der Metropole haben sich zur Unterstützung in die Provinz gewagt. Hier heißt Antifa zwar nicht Angriff, und auch das Parteiabzeichen mit den zwei im Winde wehenden Fahnen - die rote vorn - ist uninteressant. Nazis haben hier den Abend aber keine Chance. Und auch keine Touristen.