Ein Plädoyer für eine Kritik des Kapitalismus statt der Kritik an Bedürfnissen

Wag the Dog

Statt von der Kritik der Bedürfnisse muss die Kritik des Kapitalismus von dem Umstand ausgehen, dass die Befriedigung von Bedürfnissen in Warenform notwendig auf Ausbeutung im Produktionsprozess fußt, unter der alle Arbeiter leiden.

Vor einem Jahr veröffentlichten Robin ­Celikates, Rahel Jaeggi, Daniel Loick und Christian Schmidt »11 Thesen zu Be­dürfnissen« auf der Website »Kritische Theorie in Berlin«. In seiner Kritik an ­diesem Text argumentierte Julian Kuppe, dass die Vermittlung von Bedürfnisbe­friedigung durch das Kapitalverhältnis zum Gegenstand der Kritik gemacht werden müsse (»Jungle World« 17/2024).

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Julian Kuppes Kritik am freischwebenden Konzept einer »radikaldemokratischen Bedürfnispolitik, in deren Mittelpunkt die freie und gleichberechtigte Teilhabe aller an den Prozessen der Bedürfnisbildung steht«, trifft den entscheidenden Schwachpunkt der »11 Thesen« der Autoren von »Kritische Theorie in Berlin« (KTB): Solange die Befriedigung von Bedürfnissen sich durch den Markt und also mittels Waren vollzieht, muss die Beschwörung alternativer, dezidiert politischer Wege der Bedürfnisartikulation und -befriedigung bloßes Gedankenkonstrukt bleiben.

Denn welche und wessen Bedürfnisse erfüllt werden oder nicht, regelt der Markt. Politische Eingriffe in dessen sogenannte Selbstregulierungskräfte sind stets bloß nachträgliche Versuche, unerwünschte oder nicht intendierte Folgen des Marktgeschehens zu korrigieren, nicht zuletzt, um zu verhindern, dass das Kapital seine ­eigenen reproduktiven, ökologischen oder sonstigen Grundlagen zerstört. Die politische Betreuung der nationalen Kapitalakkumulation durch den Staat ist notwendiger Bestandteil jeder Gesellschaft mit kapitalistischer Produktionsweise. Marx hat die »bewusste und planmäßige Rückwirkung der ­Gesellschaft auf die naturwüchsige Gestalt ihres Produktionsprozesses« anhand der englischen Fabrikgesetzgebung im ersten Band von »Das Kapital« behandelt. Die Forderung nach einer politischen Behandlung von Bedürfnissen, wie sie in den »11 Thesen« formuliert wird, ist unter diesen Bedingungen daher entweder Utopismus oder aber eine Reformulierung hinlänglich bekannter Verteilungs- und Konsumkritiken.

Selbst wenn es dem Kapitalismus irgendwie gelänge, wenigstens die materiellen (Grund-)Bedürfnisse der Menschheit zu erfüllen, wäre die kapitalistische Produktionsweise immer noch kritikabel.

Bei diesen wird der Kapitalismus fälschlicherweise als Nullsummenspiel aufgefasst und Werttransfer mit Wertschöpfung verwechselt. Im globalen Maßstab basiert dann »unser Reichtum« (des Westens) auf der neo- oder postkolonialen Ausbeutung und Unterdrückung des sogenannten Globalen Südens. Anstelle des abstrakten Prinzips kapitalistischer Vergesellschaftung, das sich gegenüber allen Menschen durchsetzt und eine interne Stratifikation der nationalen Gesellschaften von reich bis arm sowie eine Hierarchisierung der einen Weltgesellschaft in Zentrum und Peripherie hervorbringt, werden lediglich die konkreten Manifestationen kapitalistischer Herrschaft kritisiert. »Die paternalistische postkoloniale Parteinahme für den wirklichen oder vermeintlichen Underdog ist das kümmerliche Residuum linker Herrschaftskritik«, fasst Ingo Elbe diese Entwicklung linker Theorie in seinem kürzlich erschienenen Buch »Antisemitismus und Postkoloniale Theorie« zusammen.

Die Tendenz, Kritik an persönlicher Macht mit Kritik an unpersönlicher Herrschaft zu verwechseln, ist auch in den »11 Thesen« des KTB zu erkennen. Folgt man deren Autoren, liegen falsche Bedürfnisse dann vor, wenn deren ­Befriedigung auf Kosten oder zu Lasten der Befriedigung der Bedürfnisse Dritter gehen: »Die Befriedigung von Bedürfnissen im Kapitalismus – unter den Bedingungen von klassen-, gender-, und rassenbasierter Herrschaft und Ausbeutung – ist immer die Befriedigung der Bedürfnisse einiger auf Kosten der Bedürfnisse anderer, auf Kosten jener Bevölkerungen, deren Bedürfnisse nicht zählen.«

Arbeitnehmer leiden unter der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft

Wenn die allgemeine Form der Arbeits- und Konsumprodukte die Warenform ist, erzeugt allerdings jede Befriedigung von Bedürfnissen durch den Konsum von Waren Leid. Erstens derjenigen, die die Waren als unmittelbare Produzenten herstellen, aber keinen Einfluss auf den Arbeitsprozess und Produktionszweck haben. Und zweitens derjenigen, die ihrerseits als abhängig Beschäftigte das nötige Geld für den Erwerb von Waren verdienen müssen. Hinzu kommen drittens all jene, die mittelbar und indirekt an den (zum Beispiel ökologischen) Folgen der kapitalistischen Produktionsweise leiden. Insofern wären alle oder doch nahezu alle Bedürfnisse im Kapitalismus als falsch zu bezeichnen – eine analytisch wenig hilfreiche Aussage.

Kritik des Kapitalismus ist etwas kategorial anderes als eine Hierarchisierung (falscher, falscherer, der falschesten?) Bedürfnisse und des damit verbundenen Leidens. Entscheidend ist die Einsicht, dass im Kapitalismus alle Arbeitnehmer unter der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft zum Zweck der Mehrwertproduktion leiden. Ausbeutung, also der Umstand, dass die Arbeiter für ihre Arbeitskraft weniger Wert erhalten, als sie durch ihre Arbeit schaffen, endet nicht damit, dass sich Arbeitsverhältnisse verbessern, der ­Lebensstandard der Arbeiterklasse steigt, Arbeitszeiten verkürzt werden oder die Bedürfnisse bislang vernachlässigter oder ausgegrenzter Gruppen anerkannt werden beziehungsweise deren Befriedigung im »sozialen Prozess kollektiver Bedürfnisformation« (KTB) berücksichtigt wird.

Selbst wenn es dem Kapitalismus irgendwie gelänge, wenigstens die materiellen (Grund-)Bedürfnisse der Menschheit zu erfüllen, wäre die kapitalistische Produktionsweise immer noch kritikabel.

Die (erfolgreiche oder verfehlte) Befriedigung von Bedürfnissen bietet weder eine Grundlage für ein Lob noch für eine Kritik des Kapitalismus. Kritikabel ist dieser zuallererst aufgrund der Tat­sache der Ausbeutung – und diese bemisst sich noch immer an der Mehrwertrate und nicht anhand des erreichten Lebens- oder Konsumstandards oder der Beeinträchtigung Dritter. Die Steigerung der Mehrwertrate bedarf jederzeit der »Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit auf Kosten des individuellen Arbeiters«, so bereits Marx: Die Mittel zur Entwicklung der Produktion »schlagen um in Beherrschungs- und Exploitationsmittel des Produzenten, verstümmeln den Arbeiter in einen Teilmenschen, entwürdigen ihn zum Anhängsel der Maschine«.

In diesem Zusammenhang wäre auch Julian Kuppe zu kritisieren, der an Bedürfnissen und ihrer (Nicht)­Befriedigung als einem »zentralen Punkt für die Kritik und die Überwindung der Destruktivität der Verhältnisse« festhalten möchte. Denn selbst wenn es dem Kapitalismus irgendwie gelänge, wenigstens die materiellen (Grund-)Bedürfnisse der Menschheit zu erfüllen, wäre die kapitalistische Produktionsweise immer noch kritikabel. Die Konsumtion des Arbeiters bliebe weiterhin die Voraussetzung für seine erfolgreiche Ausbeutung im Produktionsprozess. »Die individuelle Konsumtion des Arbeiters bleibt also ein Moment der Produktion und Reproduktion des Kapitals«, so Marx. Weil Bedürfnisse und ihre Befriedigung eine abhängige Variable der Kapitalakkumulation sind, gleicht ein Versuch, das Ziel der Systemtransformation von den Bedürfnissen her zu denken, einem Schwanz, der mit dem Hund wedeln möchte.