Neue Runde im Gazi-Prozeß

Abknallen für das Vaterland

Schon mehr als drei Jahre sind seit den berühmten Unruhen im Istanbuler Stadtteil Gazi vergangen. Und immer noch macht sich eine Karawane von Angehörigen der Opfer, Menschenrechts-Aktivisten und Delegationen auf zum Prozeß. Der findet im fernen Trabzon an der Schwarzmeerküste statt, in der Nähe zur armenischen Grenze. Die türkische Justiz zeigte sich bei der Bestimmung des Gerichtsortes sehr flexibel. Eine von Angehörigen beantragte Verlegung des Verfahrens nach Istanbul wurde abgelehnt, da das Argument - die Prozeßbeobachtung werde durch die große Entfernung erschwert - "innerhalb der Prozeßordnung von türkischen Strafverfahren nicht auftaucht". Langsam ebbt das Interesse an dem Prozeß ab. Nicht das der Angehörigen der 28 jugendlichen Opfer, die während der Ausschreitungen zwischen Polizei und alevitischen Demonstranten am 12. und 13. März starben, sondern das der Journalisten, denen der Weg einfach zu weit ist.

"Habt ihr uns vergessen?" fragt mich deshalb die Mutter der erschossenen Zeyneb Poyraz auf der samstäglichen Demonstration der Mütter von Vermißten im Istanbuler Zentrum Galatasaray. Während der Verhandlung am Mittwoch vergangener Woche hat sie den mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter im Gerichtssaal gesehen, denn erstmals mußten nunmehr auch Angeklagte vor Gericht erscheinen - drei Jahre nach den Vorfällen. Er gehört zu den vier festgenommenen Polizisten, die beschuldigt werden, die Jugendlichen mit gezielten Schüssen getötet zu haben. Im Dienste des Vaterlandes habe er das getan, sagte er im Gerichtssaal. Ein anderer Angeklagter will während der gesamten Unruhen nicht aus der Polizeistation gewichen sein. Schwer vorstellbar für alle Beobachter der Vorfälle damals. Denn da die Polizeistation Gazi Mittelpunkt der Angriffe der Demonstranten war, hatten die Sicherheitskräfte alle Polizisten, die zu der Zeit in Gazi ihren Dienst versehen hatten, aus der Polizeistation entfernt.

Unter den Angeklagten, die dieses Mal vor Gericht erschienen, befand sich auch Zivilpolizist Adem Albayrak. Von ihm existieren Fotos, auf denen er zum fraglichen Zeitpunkt in Gazi mit einem Gewehr wie Rambo posiert oder zielt, als sei er auf Hasenjagd. Vermutlich hat er in Gazi sechs Menschen erschossen. Albayrak erklärte nun in Trabzon, die Bevölkerung von Gazi sei eine Ansammlung von Terroristen gewesen. Trotz Mahnung der Anwälte der Angehörigen wurde diese Aussage nicht ins Gerichtsprotokoll aufgenommen. Dafür werden sich einige Angehörige, die bei diesem Spruch in Protestrufe ausbrachen, wegen Störung der Disziplin im Gerichtssaal verantworten müssen.

Gleich vor dem Staatssicherheitsgericht soll mittlerweile Hanefi Avci, ehemaliger Sektionschef des polizeilichen Geheimdienstes, landen - wegen Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen. Er hatte bereits vor Monaten im Rahmen der Ermittlungen zum sogenannten Susurluk-Unfall bekannt gegeben, der berüchtigte Kontraguerillero Mahmut Yildirim, Deckname Grün, habe "bei der Provokation in Gazi seine Finger im Spiel gehabt". Yildirim stammt aus dem Spektrum der faschistischen "Grauen Wölfe", die in den siebziger Jahren Erfahrung damit sammelten, mit der Beschießung von Kaffeehäusern Straßenschlachten zu provozieren.

Und in Gazi hatte alles mit Schüssen auf vier alevitische Kaffeehäusern angefangen, als Unbekannte aus einem Taxi in die Lokale feuerten, einen alevitischen Geistlichen töteten und 15 Menschen verletzten.