Einigkeit für Trichenberg

Politisch unterscheidet Trichet und Duisenberg nichts. Aus symbolischen Gründen beharrten Chirac und Kohl dennoch auf ihren Favoriten

Die Einführung des Euro kommt gerade noch rechtzeitig. Einen besseren Beweis für diese These hätte es gar nicht geben können, als den Brüsseler Mittagessen-Streit zwischen Jacques Chirac und Helmut Kohl um den Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Geschlagene vierzehn Stunden dinierten die beiden Potentaten Anfang Mai in der belgischen Hauptstadt über der Frage, ob - und wenn ja, wie lange - Kohls Wunschkandidat Willem Duisenberg der Zentralen Institution des künftigen Europäischen Währungssystems vorstehen soll. Auf den ersten Blick scheint Chiracs Widerstand gegen Kohls Favoriten verständlich: Insbesondere während der europaweiten Rezession der frühen neunziger Jahre hat Frankreich erheblich unter der Währungspolitik der Bundesbank gelitten.

Aufgabe jeder Zentralbank - der Bundesbank ebenso wie der Europäischen Zentralbank (EZB) - ist es, die Leitzinsen festzulegen, nach denen sich die Zinssätze richten, zu denen die Banken Geld verleihen. Legt sie die Leitzinsen auf einem hohen Niveau fest, so verteuert sie die Kredite, erschwert damit Investitionen und verlangsamt die Produktion; zugleich garantiert sie dem Spekulationskapital Wertstabilität. Die Rolle der Deutschen Mark als Leitwährung im europäischen Raum macht sie für Anleger attraktiv; zugleich ermöglichten die starke Produktionsbasis der Industrie und die wohlgefüllten Kriegskassen der Konzerne es bisher der deutschen Nationalökonomie, trotz eines hohen Zinsniveaus leidlich durchzukommen. Den schwächeren Ökonomien der Nachbarländer hingegen legte der Zwang, mit dem Zinsniveau der mächtigen Bundesbank mitzuhalten, den Würgegriff an.

Bereits in den achtziger Jahren wollte ein Teil der französischen Eliten aus diesem Grund das Projekt einer gemeinsamen europäischen Währung voranbringen, um die BRD ihrer wichtigsten Waffe gegen die Nachbarländer zu berauben: der Stärke der D-Mark und einer Währungspolitik, über welche die Bundesbank allein beschloß. Nach der Zustimmung zur deutschen Einheit ließ sich Bonn in Maastricht im Dezember 1991 hierauf ein - rang den anderen europäischen Staaten, insbesondere Frankreich, jedoch ein gewichtiges Zugeständnis ab: Die EZB als Hüterin der gemeinsamen Währung wird ein getreues Abbild der Bundesbank sein, insbesondere wird sie allein dem Selbstzweck Währungsstabilität verpflichtet und von jeder politischen Institution unabhängig sein. Grundsätzlich andere Ziele wie die Förderung der Beschäftigung oder des Binnenkonsums wird sie nicht im Auge haben, als nicht gewähltes Expertengremium wird sie jeder demokratischen Kontrolle entzogen sein. Im Zentralbankrat, der aus den Präsidenten der elf nationalen Zentralbanken und sechs weiteren Mitgliedern bestehen soll, die in Brüssel bestimmt wurden, sitzen ausschließlich ehemalige nationale Zentralbankmitglieder und Technokraten der Währungspolitik - kein einziger Vertreter des wirtschaftlichen und sozialen Lebens.

Einen entsprechenden Status sieht der Maastricht-Vertrag für alle europäischen Nationalbanken vor, die künftig Unterabteilungen der EZB sein werden. Bereits 1993 sah sich Frankreich gezwungen, seiner Zentralbank ebenfalls einen "unabhängigen" Status zu geben und sie aus der bisherigen politischen Kontrolle zu entlassen. Unter dem Vorsitz von Jean-Claude Trichet verfolgt die Banque de France seither eine ähnliche Politik wie die Bundesbank. Der Preis dafür ist die Drosselung von Produktion und Beschäftigung, freuen dürfen sich allein die Profiteure des Spekulativkapitals.

Die Umstrukturierung der Banque de France führte jedoch zu heftigen Konflikten innerhalb der französischen Eliten. Als Präsidentschaftsanwärter des bürgerlichen Lagers setzte sich 1994/95 Jacques Chirac mit einem erklärtermaßen gegen die Banque de France geführten Wahlkampf durch. Deren Gouverneur Trichet griff er Anfang 1995 offen an, er habe der Regierung nicht die Wirtschaftspolitik zu diktieren.

Doch auch nach der Umstrukturierung der Banque de France sitzen in deren Führung noch ein ehemaliger Gewerkschafter, der ehemalige Chef des Unternehmerverbands der Metallindustrie und der frühere Wirtschaftsjournalist Jean Boissonnat. Diese Führungsmitglieder sind sich der ökonomischen und sozialen Folgen ihrer Entscheidungen bewußt - während der Frankfurter "Olymp" EZB von dieser Dimension vollkommen abgeschnitten erscheint. "Eine noch monolithischere Institution als die Bundesbank", titelte die Pariser Abendzeitung Le Monde am 5. Mai über die EZB, und in ihrer Ausgabe vom 9. Mai stellt sie auf den ersten beiden Seiten gleich dreimal die Frage: "Ist das Modell der Bundesbank auf die Ebene der EZB übertragbar?"

Vor dem Hintergrund der Brüche zwischen ökonomischen Staatsapparaten diesseits und jenseits des Rheins, aber auch innerhalb der französischen Eliten erklärt sich das eiserne Beharren Chiracs auf einer Personalentscheidung zugunsten des Franzosen Trichet an der Spitze der EZB. Allerdings bleibt dieses Drängen auf der symbolischen Ebene stehen: Steht doch Trichet in der Sache just für jene Politik, die bisher durch die Bundesbank verfolgt wurde. Doch auch Trichets nunmehriger Gegenkandidat Duisenberg hat sich in 15 Jahren an der Spitze der niederländischen Notenbank den Ruf eines bedingungslosen Stabilitätspolitikers erworben. Daß er bei der Auslegung der Konvergenzkriterien für die Zulassung zum Währungsverbund zunächst etwas elastischer zu sein schien als Bundesfinanzminister Theo Waigel, spricht nur für den größeren Realismus des Niederländers. Als klar wurde, daß auch Deutschland die noch kurz vorher so laut eingeforderte Marke von genau drei Prozent Haushaltsdefizit - "3,0 ist 3,0" hatte Waigels Stehsatz des Jahres 1997 gelautet - verfehlen würde, fand sich Waigel sehr schnell an der Seite von Duisenberg wieder. In der Einschätzung, daß für die Einführung des Euro der Abbau von Sozialleistungen nötig sei, waren sich beide längst einig: Zuletzt forderte Duisenberg im vergangenen März Frankreich wie die Bundesrepublik auf, drohenden "Kostenlawinen" in der Rentenversicherung entgegenzuwirken.

Wie Libération-Chefredakteur Laurent Joffrin am vergangenen Sonntag im Presseclub des französischen Fernsehens anmerkte, "besteht politisch kein Unterschied zwischen Trichet und Duisenberg: Es handelt sich um einen Kampf zwischen zwei Orthodoxen der Währungsstabilität. Trichet und Duisenberg sind austauschbar, wir haben es mit Trichenberg zu tun."

Im Juli vergangenen Jahres war Duisenberg bereits als Favorit Kohls auf den Chefsessel des Europäischen Währungsinstituts gehievt worden, das ebenfalls auf deutschen Druck seinen Sitz in Frankfurt am Main gefunden hatte. Frankreich bestand damals ausdrücklich darauf, dies dürfe keine Vorentscheidung über die Leitung der Europäischen Zentralbank sein. In Brüssel bestand Chirac jetzt auf dieser Auffassung, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

"Heute lassen Sie uns einmal deutsch reden", konterte im Bundestag Wolfgang Schäuble: "Kleinliches Gezänk über Personalfragen" sei das Bestehen auf Trichet, desavouierte der CDU-Fraktionschef - selbst nur aus Gründen der Parteidisziplin zum Euro-Freund mutiert - den französischen Präsidenten. Doch zum Zanken gehören immer mindestens zwei. Und Kanzler Kohl ist in Brüssel sicher nicht nur wegen seiner bekannten Vorliebe für ausgedehnte Mahlzeiten vierzehn Stunden lang stur geblieben.

Letztlich rettete die Art von Realismus die Verhandlungen, die einen Währungspolitiker auszeichnet. Der Niederländer lenkte ein, vier Jahre Amtszeit seien auch möglich, dann könne er "aus Altersgründen" zurücktreten und Trichet könne zum Zuge kommen. Als Duisenberg zwei Tage später mitteilte, genauso gut könne er sich auch vorstellen, die volle Amtszeit von acht Jahren an der Spitze der Zentralbank zu bleiben, waren die Kurse für Euro-Anlagen bereits kräftig gestiegen.

Und vor dem Deutschen Bundestag hatte sich Kohl schon gefreut, man habe "ein Präsidium berufen, das mit zum Besten gehört, was Europa zu bieten hat". Vorher hatte Kohl sich sichtlich bemüht, die nationalistischen Wogen zu glätten, die Schäuble und Waigel vorher aufgewühlt hatten. Besonders warme Worte fand der Kanzler dabei für seinen Fraktionschef, der den Euro vorher als Weg bezeichnet hatte, "um die Interessen Deutschlands an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert so gut wie irgend möglich wahrzunehmen". Schäubles Redebeitrag hatte in dem Ausruf gegipfelt: "Nationale Interessen und die europäische Einigung sind kein Gegensatz."