Erster Schritt zum Schisma

CSU-Generalsekretär Bernd Protzner geriet in die Schußlinie, weil er ausplauderte, wie die CSU-Spitze über die Zeit nach der Wahl spekuliert

Man soll während der Fahrt vom Autotelefon aus keine Gespräche führen und schon gar keine Interviews geben: Man kann sich dabei weder aufs Telefonieren konzentrieren noch aufs Autofahren. Diesen klugen Ratschlag, vom ADAC regelmäßig über seine Mitgliederzeitschrift verbreitet, hat der Generalsekretär der CSU sträflich mißachtet.

Ausgerechnet am Morgen des CSU-Wahlkampfauftaktes gewährte er zu früher Stunde dem Deutschlandfunk eine Liveschaltung in seinen Dienstwagen. Dabei fielen die Worte, die wohl über kurz oder lang die Karriere des Bernd Protzner beenden werden: Sollte die Union - was unwahrscheinlich sei - bei der Bundestagswahl unterliegen, so könne die CSU sich auch die Tolerierung einer SPD-Minderheitsregierung vorstellen. Daß das den Bruch der Fraktionsgemeinschaft mit der CDU einschlösse, brauchte Protzner nicht mehr auszusprechen.

Es mag daran gelegen haben, daß der Generalsekretär an diesem 27. Juni um zehn vor acht noch nicht ganz ausgeschlafen war. Vielleicht war auch das "psychologische Tief" schuld, das Verkehrsminister Matthias Wissmann (CDU) derzeit für die gesamte Union diagnostiziert. Oder es war eben doch der dichte Verkehr zwischen des Generalsekretärs oberfänkischer Heimat und der Landeshauptstadt München, wo die bayerische Regierungspartei an diesem Samstag den Wahlkampfauftakt plante.

Das, so hatte Protzner es sich ausgerechnet, sollte seine Stunde werden: Auf dem neuen Münchener Messegelände sollte der Wahlparteitag unter seiner Regie ablaufen. Jedes Detail hatte er bedacht: Parteitagsregie - da sollten die Sozialdemokraten mal sehen, wie man so etwas macht, ohne gleich als prinzipienlose Showmaster angreifbar zu werden. Allen wollte man es so richtig zeigen: der verhaßten FDP, der sogenannten Schwesterpartei CDU, vor allem aber Schröder, diesem Sauhund, der sich - jede Wette - auch von den PDS-Kommunisten tolerieren lassen würde.

So war es zumindest geplant: Politik ist das eine. Da muß man auch in Bayern manchmal kompromißbereit sein. Sie zu verkaufen, ist das andere. Da muß man - gerade in Bayern - das vorgereckte Kinn des kompromißlosen Hardliners tragen. An diesem Wochenende sollte bundesweit die CSU das beherrschende Thema der Abendnachrichten sein. Und das Bild sollte bestimmt sein von möglichst vielen aufrechten, rechten Kinnen.

Tatsächlich hatte die CSU keine Schwierigkeiten, zum Thema des Abends zu werden. Doch viel mehr als für die Reden des Vorsitzenden Theodor Waigel oder des Ministerpräsidenten Edmund Stoiber interessierten sich die Fernsehanstalten für das dumme kleine Interview, das der Generalsekretär am Morgen irgendwo auf der Autobahn zwischen Kulmbach und München gegeben hatte.

Tagelang hatte es zuvor schon rumort, daß einige in der CSU die Tolerierung einer Schröder-Minderheitsregierung für möglich hielten. Das allein war noch keine Nachricht. An Stammtischen - und die CSU ist ein sehr großer Stammtisch - wird viel geredet, wenn die Nacht lang ist. Erst durch Protzners Interview war aus dem Rumoren eine Nachricht geworden: Wenn es schon so weit ist, daß der Generalsekretär der CSU öffentlich über eine SPD-Tolerierung nachdenkt, dann kann es nicht mehr weit her sein mit dem Optimismus in der Partei der gewohnheitsmäßigen Wahlsieger - in der Partei, für deren Wähler dieser immerwährende Optimismus ebenso wichtig ist wie die kompromißlose Haltung. Da geht es längst nicht nur um irgendwelche Spekulationen, was nach der Wahl sein könnte; es geht um weit mehr: Um das Bild ihrer selbst - und damit auch um das Bild von Bayern -, das die CSU innerhalb eines halben Jahrhunderts den Wählern eingeprägt hat. Daran zu kratzen, war ein klarer Verstoß gegen die Parteilinie.

Und er wurde auch sofort geahndet. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber bezeichnete als "dummes Zeug", was sein Generalsekretär gesagt hatte, Protzners eigener Stellvertreter Joachim Herrmann - ein Mann aus der Münchener Landtagsfraktion, wo man treu zu Stoiber steht und die Bonner Transmontanen mißtrauisch beäugt - schalt Protzners Worte "Unfug". Parteichef Theo Waigel betonte, der SPD-Kandidat Gerhard Schröder werde "nicht toleriert, sondern bekämpft", gab allerdings zu, "eine punktuelle Tolerierung bei einzelnen Haushaltsfragen" sei auch für ihn denkbar. Und der Bonner Landesgruppenchef Michael Glos erklärte, da sei "etwas hochgekocht worden"; Berichte über eine SPD-Tolerierung seien "eine Phantomdebatte".

Daß die Stimmen gegen Protzner an Schärfe abnahmen, je weiter man sich von der Staatskanzlei am Münchener Franz-Josef-Strauß-Ring entfernte, war nicht weiter überraschend. Der einst offen ausgetragene Streit zwischen Waigel und Stoiber findet zwar nur noch hinter verschlossenen Türen statt, doch die konkurrierenden Prinzipien, für die beide stehen, spalten die Partei in eine Trachten- und eine Technokratenfraktion. Lodenjanker gegen englisches Tuch, Bayern gegen Europa, Sozialpopulismus gegen Haushaltssperre, heimische Rüstungsindustrie gegen transnationales Kapital: Längst hat die Rivalität zwischen Stoiber und Waigel die Partei um die einstige Sicherheit gebracht, daß fast jedes Mitglied fast immer genau weiß, was Parteilinie ist. In das Vakuum, das sich zwischen Staatspartei und Stammtisch auftut, stoßen die Freien Wählergemeinschaften.

Seit langem schon dienen diese Listen als Auffangbecken für - meist der CSU durchaus nahestehende - Kommunalpolitiker, die "bei der Partei" keinen aussichtsreichen Listenplatz erreichen konnten. An den Stammtischen sind sie gerade auf dem Lande meist ebenso gut verankert wie die CSU selbst. Wenn sie am 13. September erstmals zur Landtagswahl antreten, dann könnte das die um den Erhalt der absoluten Mehrheit kämpfende CSU die entscheidenden Prozentpunkte kosten. Ein Erfolg der "Freien" würde der Regierungspartei allerdings auch aus der Verlegenheit helfen, eine Große Koalition mit der SPD bilden zu müssen: Eine Koalitionsregierung aus Christsozialen und Wählergemeinschaften wäre von der derzeitigen CSU-Alleinregierung kaum zu unterscheiden.

In Bayern könnte also - wenn auch unter neuem Etikett - alles beim Alten bleiben. Ganz anders sähe es für die CSU auf Bundesebene aus, sollte sie zwei Wochen nach der Bayern-Wahl in die Bonner Opposition gedrängt werden. Ohne die publicity-trächtigen Ministersessel würde es für die bayerischen Parlamentarier äußerst schwierig, gegenüber der übermächtigen CDU eigenes Profil zu bewahren, zumal wenn sie mit dieser in Fraktionsgemeinschaft bleiben sollte: In wichtigen Debatten könnten beide Parteien dann nur noch einen Redner ans Pult schicken. Dem Porporz nach wäre dann nur noch ungefähr jeder sechste Unionsredner ein Vertreter der CSU. Über kurz oder lang würde die stolze Partei eines Franz Josef Strauß an Bedeutung eine x-beliebigen Landesverband der CDU nicht mehr übersteigen. Der Mythos wäre tot, ein Absacken in die Normalität auch im bayerischen Landtag über kurz oder lang nicht mehr zu verhindern.

Genug Gründe, die Fraktionsgemeinschaft zu kündigen. Bernd Protzner hat über diese Fragen etwas zu laut nachgedacht. Vielleicht ist er nur deswegen noch im Amt, weil ihm viele in der eigenen Partei insgeheim dankbar dafür sind, daß er mit seinem Interview im Deutschlandfunk auch gleich den ersten Schritt zum Unionsschisma getan hat, mit dem allein sich die CSU nach einer verlorenen Wahl noch retten könnte.