Luca Sofri und Carlo Ginzburg

»Gerechtigkeit, keine Amnestie!«

Die italienische Justizfarce um die Erschießung des Kommissars Luigi Calabresi am 17. Mai 1972 ist in eine neue Phase eingetreten. Calabresi war an den Ermittlungen um das "Staatsmassaker" vom 12. Dezember 1969 beteiligt. Während des "heißen Herbstes" detonierte eine Bombe in der Mailänder Landwirtschaftsbank, 17 Menschen starben. Die Bombe wurde von Neofaschisten gelegt, angestiftet und gedeckt von Geheimdiensten. Die Ermittlungen richteten sich jedoch gegen Anarchisten, von denen einer, Giuseppe Pinelli, am 15. Dezember 1969 aus einem Fenster des Mailänder Polizeipräsidiums fiel. Für die Tötung Calabresis wurden drei ehemalige Militante von Lotta Continua - Adriano Sofri, Ovidio Bompressi und Giorgio Pietrostefani - zu je 22 Jahren Haft verurteilt. Grundlagen waren die dubiosen Aussagen eines Kronzeugen. Der Verteidiger der drei versucht jetzt, beim Kassationsgerichtshof eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen. Carlo Ginzburg hat die Widersprüche des Verfahrens in dem Buch "Der Richter und der Historiker" (Berlin 1991) beschrieben, Luca Sofri ist der Sohn des inhaftierten Adriano Sofri.

Adriano Sofri und Giorgio Pietrostefani sind nun seit 500 Tagen im Gefängnis. Ovidio Bompressi hat aus gesundheitlichen Gründen Haftverschonung. Was macht die Bewegung zur Unterstützung der drei?

Luca Sofri: Es gibt zwei verschiedene Lager. Viele unterstützen uns, andere kritisieren uns. Letztere sagen: Ihr versucht, Gerichtsverfahren auf offener Straße zu veranstalten. Aber das ist nicht wahr. Wir versuchen nur, diese Schlammschlacht zu überstehen. Wir wollen Kenntnisse über diese Geschichte verbreiten. Es ist sehr wichtig, daß die Bevölkerungs sie kennt, um zu verstehen, wie diese Gesellschaft funktioniert. Wenn die Leute diese Geschichte verstehen und sie in den Medien aufgegriffen wird, ist es leichter, diesen Kampf zu führen, als wenn absolutes Schweigen herrscht.

Italiens Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro hat bereits im vergangenen Herbst in einem Brief an die Präsidenten der beiden Parlamentskammern sinngemäß geschrieben: Amnestie wird es für diese drei Leute nicht geben. Und das einige Tage, bevor die Listen mit rund 150 000 Unterschriften für eine Amnestie des Trios bei ihm landeten. Was hat das für eine Bedeutung?

Carlo Ginzburg: Wahrscheinlich war er besorgt, daß eine Geste in Richtung Amnestie unpopulär sein könnte. Andererseits hat er möglicherweise Druck zugunsten einer politischen Lösung für die Gefangenen und Exilierten aus den Bewegungen der siebziger Jahre ausgeübt. Vielleicht hat er seine Ansicht über den Fall Sofri mittlerweile geändert. Einige der jüngsten Entwicklungen können durchaus unterschiedlich gedeutet werden. So ist es überaus relevant, daß die politische Debatte in den letzten Wochen in Italien auf die Ermordung von Aldo Moro fokussiert warÖ

Über mögliche staatliche Verwicklungen wurde selbst in Deutschland berichtet...

Ginzburg: Sicher steht in der öffentlichen Debatte viel auf dem Spiel, und gleichzeitig findet eine sehr obskure politische Auseinandersetzung mit Drohungen und Erpressungen statt. In dieser Situation ist eine politische Entscheidung, die eine generelle Amnestie für die Siebziger beinhalten würde, aus meiner Sicht unerreichbar - zumindest im Moment.

Sofri: Man sollte auch bedenken, daß Sofri, Bompressi und Pietrostefani keine Amnestie vom Staatspräsidenten wollen. Sie wollen eine direkte Entscheidung, weil sie darauf bestehen, daß sie unschuldig sind.

Wird in der öffentlichen Diskussion eine Verbindung zwischen dem Fall Sofri und, beispielsweise, dem Fall von Antonio Negri gezogen, der letztes Jahr freiwillig nach Italien zurückkehrte und ebenfalls im Gefängnis sitzt?

Ginzburg: Sagen wir es so: Eine Menge der Unterstützer von Toni Negri würden eine solche Verbindung gerne herstellen. Aber es gibt etwas Spezifisches an dem Fall Sofri: Die drei sind unschuldig. Es ist wichtig, diese Besonderheit nicht zu vergessen.

Sofri: Man kann sagen, Toni Negri sollte nicht verurteilt werden und nicht im Gefängnis sitzen. Das ist aus meiner Sicht absolut richtig. Er hat aber nie gesagt: "Ich bin unschuldig, ich habe nicht getan, was ihr mir vorwerft."

Ginzburg: Es handelt sich hier um zwei verschiedene Probleme. Einmal das Problem, das Sofri, Bompressi und Pietrostefani betrifft: Für sie ist die einzige akzeptable Lösung ein neues Verfahren.

Auf der anderen Seite gibt es ein allgemeines politisches Thema - die siebziger Jahre. Es gibt keine Chance, die damalige Rolle der Linken als ein separates politisches Problem zu behandeln. Sollte sich in dieser Frage etwas verändern, dann als Teil eines größeren politischen Handels, der auch eine Art Ausflucht beinhalten würde. Das heißt, das Kapitel abzuschließen - nicht nur in Bezug auf die Linke, sondern auch hinsichtlich der Rolle, die Politiker, Geheimdienste usw. gespielt haben. Das ist meine Auffassung, die aber von vielen Leuten, einschließlich Adriano Sofri, nicht geteilt wird.

Sofri: Gegenwärtig werden in der öffentlichen Debatte viele Dinge vermischt, sei es wegen mangelnder Informationen, sei es absichtlich. Es ist wahr, daß in Italien noch etwa 200 Leute wegen übertrieben harter Urteile aus den Jahren des Terrorismus im Gefängnis sitzen. Sie sind für niemanden mehr gefährlich. Sie sind seit zehn oder zwanzig Jahren im Gefängnis, und sie müssen entlassen werden. Das sollte man aber unterscheiden von dem Fall der drei Leute, die für etwas verurteilt wurden, was sie nicht getan haben.

Ist nicht jetzt, angesichts der Mitte-Links-Regierung, die Zeit für eine Lösung beider Probleme so günstig wie nie zuvor?

Sofri: Nein. So wie die Dinge in Italien laufen, verändert keine linke oder rechte Regierung daran etwas. Bei allem, was in Italien in dieser Hinsicht geschieht, steht so viel auf dem Spiel, daß es immer sehr schwierig ist, einen Schritt vorwärts zu machen. Viel einfacher ist es, die Dinge einfach so zu belassen, wie sie sind, um keine Probleme zu bekommen.

Mit wem? Vielleicht mit Kräften im italienischen Staatsapparat, die stärker sind als die Regierung, sei sie von links oder von rechts?

Sofri: Die linke Regierung in Italien wird sehr dafür kritisiert, keine richtige linke Regierung zu sein - aus vielen Gründen. Das ist die allgemeine Ebene. Zudem stammen nicht wenige Leute, die unser Engagement im Fall Sofri unterstützen, aus Bewegungen oder Parteien der Mitte oder der Rechten. Der Fall Sofri wird nicht nur von der Linken getragen und von der Rechten bekämpft - die Zusammensetzung der Unterstützer ist gemischt.

Darüber hinaus bringt der Fall Sofri eine Menge sehr gefährlicher Beweggründe mit sich. Es geht um die Rolle der Richter in Italien. Es ist, für mich beispielsweise oder für Carlo, in den vergangenen Jahren immer sehr schwierig gewesen - jetzt ist es ein bißchen einfacher -, zu linken Parteien, zu irgendwelchen Veranstaltungen usw. zu gehen und zu sagen: Diese Richter in Mailand haben falsche Dinge unternommen und illegale Wege eingeschlagen, um die drei schuldig zu sprechen. Denn die Richter von Mailand sind dieselben - nicht die gleichen Personen, aber das gleiche Büro -, die früher unter anderem für eine Verurteilung des einstigen Präsidenten Craxi und von Teilen seiner sozialistischen Partei wegen Korruption gesorgt haben. Das ist natürlich auch heute noch sehr delikat. Unter anderem deswegen ist die linke Regierung gegenwärtig sehr vorsichtig, sich nicht gegen die Richter von Mailand zu stellen.

Darüber hinaus wird über die Rolle der Pentiti, der Kronzeugen, in den Gerichtsverfahren diskutiert. So sind wir beispielsweise mit folgender Position konfrontiert: Wenn wir sagen, daß der Pentito Marino im Sofri-Verfahren lügt, ist die Glaubwürdigkeit aller Pentiti in Frage gestellt, und dann sind die Verfahren gegen die Mafia in Gefahr. All diese Diskussionen, die sich über unseren Köpfen abspielen, sind für das Sofri-Verfahren von Bedeutung.

Kommt es gegenwärtig nicht vor allem der Rechten, beispielsweise Berlusconis Forza Italia, entgegen, wenn die Justiz delegitimiert wird?

Sofri: Sicher ist, daß viele Leute, die uns unterstützen, es sehr ernst meinen, auch aus Berlusconis Partei. Sicher gibt es aber auch Leute, die über jedes Verfahren, in denen die italienischen Richter den Kampf verlieren, glücklich sind. Das heißt aber nur, daß in dem Sofri-Verfahren Dinge eine Rolle spielen, die mit der Frage nach Schuld oder Unschuld nichts zu tun haben. Wir fragen nur: Hier sind die Beweise; sind sie unschuldig oder schuldig?

Welche neuen Beweismittel wurden von der Verteidigung ins Spiel gebracht, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erreichen?

Sofri: Die wichtigsten, die in der italienischen Presse vielfach besprochen wurden, sind zwei Zeugen. Einer ist kein richtig neuer Zeuge. Er ist Augenzeuge der Tötung von Calabresi. Heute sagt er, daß er den Mann, der Luigi Calabresi erschoß, in den Tagen nach dem Anschlag auf einem Polizeifoto wiedererkannt habe. Aber die Polizei habe ihm nicht zugehört, sondern versucht, ihn dazu zu bewegen, einen jungen Mann aus der damaligen linken Bewegung per Foto zu identifizieren. Aus Angst habe er dann nichts mehr gesagt. Heute seien andere Zeiten, er habe keine Angst mehr und wolle deshalb aussagen.

Ginzburg: Wichtig ist dabei, daß die Polizei immer gesagt hat, Bompressi - der angebliche Mörder - sei ihr zu dieser Zeit völlig unbekannt gewesen. Wenn sie also ein Foto hatte, zeigte es nicht Bompressi.

Sofri: Der andere wichtige Zeuge ist ein Mann, der in Massa, der gleichen Stadt wie Bompressi, lebte, 300 Kilometer von Mailand entfernt, wo Calabresi um9.15 Uhr morgens erschossen wurde. Er sagt, er habe am Tag des Anschlags gegen 13 Uhr Bompressi in einem Café der Stadt getroffen. Andere Zeugen hatten dies ebenfalls ausgesagt. Aber die Richter waren der Meinung, daß es sich dabei um Freunde Bompressis gehandelt habe; daher bestünden Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit. Nun gibt es also einen anderen Zeugen, der kein Freund von Bompressi war, und der dasselbe sagt. Damals gab es keine Autobahnen für diese Strecke, und deshalb hätte man nicht innerhalb der fraglichen Zeit von Mailand nach Massa zum Kaffeetrinken fahren können - auch wenn die Richter vom Gegenteil ausgehen wollen.

Was sollte hinsichtlich des Sofri-Verfahrens weiter geschehen?

Ginzburg: Zunächst ist es wichtig, daß die Geschichte hier weiter verfolgt und bekannter wird. Auf ökonomischem Gebiet spielen die nationalen Trennungslinien keine große Rolle mehr. Bei der Gerechtigkeit sollte es nicht anders sein.

Sofri: Zweifellos ist der Prozeß von großer Bedeutung für Italien. Über die Vergangenheit, über all das, was in den siebziger Jahren geschah, wer Adriano Sofri war, läßt sich reden. Aber entscheidend ist das Verfahren nicht für Italiens Vergangenheit, sondern für seine Gegenwart - und seine Zukunft.